Wenn Kinderseelen leiden
Viele Kinder und Jugendliche zeigen psychische Auffälligkeiten. Doch ab wann sollten Eltern sich Sorgen machen? Was sind die häufigsten seelischen Krankheiten bei Kindern? Und was sind die Ursachen?
Hilfe & Anlaufstellen: www.sozialinfo.noe.gv.at
Landesklinikum Tulln Alter Ziegelweg 10
3430 Tulln
Tel.: 02272/9004-0
www.tulln.lknoe.at
Laura (10) ist ständig bedrückt und niedergeschlagen. Sie kommt aus dem Grübeln nicht mehr heraus: „Nicht einmal mehr freuen kann ich mich. Was hat dann das Leben noch für einen Sinn?“ Sie weiß aber nicht, warum sie traurig und deprimiert ist, das macht sie noch mehr mutlos und verzweifelt. Oft weint Laura ohne Grund. Ihre Eltern versuchen sie aufzumuntern, doch Laura zieht sich immer mehr zurück, kapselt sich ab. Was lange niemand vermutet, denn Laura ist erst zehn: Sie leidet an einer Depression. Depressionen werden im Kindes- oder Jugendalter kaum erkannt und oft unterschätzt, weiß Prim. Dr. Paulus Hochgatterer, Vorstand der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie im Landesklinikum Tulln: „Eine Depression lässt sich bei Kindern und Jugendlichen schwerer diagnostizieren als bei Erwachsenen, aber sie kommt auch in diesem Alter nicht selten vor.“
Angst vor Ausgrenzung
Kinder und Jugendliche mit Depressionen leiden mehrfach: An manchen Tagen erscheint ihnen das Leben einfach unerträglich. Daneben fühlen sie Scham über ihre Krankheit und offenbaren sich nur selten, aus Angst, von anderen ausgegrenzt oder als „Psycho“ stigmatisiert zu werden. Die Ursachen für eine Depression sind vielfältig – angefangen bei biografischen Belastungen, über traumatisierende Ereignisse wie den Tod eines Familienmitglieds bis hin zu vielem anderen. Behandelt werden sollte eine Depression möglichst umfassend, empfiehlt Kinderpsychiater Hochgatterer: „Antidepressiva können hilfreich sein, aber nur die Einnahme ist zu wenig. Meist spielen auch andere Faktoren eine Rolle, Depressionen können auch genetisch vererbt sein. Man muss den Ursachen gezielt auf den Grund gehen, damit die Behandlung Erfolg haben kann.“ Bei Verdacht auf eine Depression – oder generell auf eine seelische Erkrankung – rät der Experte Eltern, sich an einen Psychologen, Psychiater oder an eine andere Anlaufstelle (siehe www.sozialinfo.noe.gv.at) zu wenden. Gegebenenfalls auch an den Hausarzt, der an eine kompetente Stelle weitervermitteln wird. Hochgatterer mahnt eindringlich: „Wenn Eltern derartige Symptome bei Jugendlichen erkennen, sollten sie den Schritt zum Facharzt nicht scheuen.“ Die gute Nachricht: Depressionen sind ausgezeichnet behandelbar und kommen auch in den besten Familien vor. Haben Sie daher keine Scheu, sich professionelle Hilfe zu holen.
Zappelphilipp-Syndrom
Anders bei Daniel (13), er ist ein extrem aufgeweckter Schüler, ein sogenannter Zappelphilipp. Er 
ist kaum in der Lage, sich eine halbe Stunde durchgehend zu konzentrieren, ist unruhig und redet immer wieder dazwischen. Seine Eltern sind ratlos. Nach einem Gespräch mit dem Schulpsychologen ist die Sache klar: Daniel dürfte an einem 
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) leiden. Paulus Hochgatterer erklärt: „Diese Kombination aus Stimmungsschwankungen, motorischer Unruhe, leichter Erregbarkeit und Konzentrationsstörungen kommt häufig vor und stellt Eltern und Lehrer vor eine große Herausforderung. In solchen Fällen sollte man rasch Hilfe suchen.“ Denn ADHS verschwindet nach der Kindheit nicht immer von alleine, sondern ist dann für viele Betroffene auch im Erwachsenenalter eine schwere Belastung.
Neurotische Störungen
Viele Kinder leiden an Ängsten, was aber nicht gleich Grund zur Sorge sein muss, sagt Hochgatterer: „Angst ist ein physiologischer Faktor, sie ist in uns allen vorhanden und hat auch eine Funktion, nämlich Gefahren abzuwehren und zu vermeiden. Im Kindergartenalter kriegen viele plötzlich Angst im Finstern oder vor Monstern, das ist aber völlig normal, denn das Kind entwickelt nun seine Fantasie. Oft reicht schon, beim Schlafengehen das Licht brennen zu lassen und die Angst ist verschwunden.“ Jedes Alter hat seine phasentypischen Ängste, vom Kindergarten bis zur Pubertät, in der die Ängste dann mehr körperbezogen werden. Ab wann sind Ängste bei Kindern besorgniserregend? „Ein Profi sollte aufgesucht werden, wenn das Familiensystem mit dem Symptom überfordert ist“, rät der Experte.Neurotische Störungen wie Ängste können aber viel weiterreichen, bis hin zu zwanghaftem Verhalten. Bei der Zwangsstörung fühlen sich die Betroffenen gezwungen, Handlungen und/oder Gedanken häufig zu wiederholen, z. B. ständiges Händewaschen, nur auf bestimmten Linien gehen oder sich bestimmte Zahlenreihen immer wieder vorsagen. Diese Zwänge können zu einer erheblichen Einschränkung im Alltag führen und beeinträchtigen meist nicht nur das Kind, sondern die ganze Familie. Zwänge entstehen durch einen unlösbaren Konflikt in der Psyche des Kindes, erklärt der Kinderpsychiater: „Nimmt ein Kind beispielsweise wahr, dass es zwischen Eltern eine konflikthafte Beziehung gibt, fühlt es sich bedroht, in seiner Fantasie entstehen einerseits Ängste vor einer Trennung, andererseits Aggressionen. Dieser Zorn wird als bedrohlich erlebt, darf nicht geäußert werden, dem Kind nicht bewusst werden. Daraus entsteht ein Symptom – der Zwang.“ Der dann ausdrückt, was unterdrückt wird. Das Zwangsverhalten verschwindet, wenn das Grundproblem bewusst gemacht ist. Mit kleineren Kindern versucht man spielerisch, das Grundproblem symbolisch auszudrücken, zum Beispiel mit Puppenspiel oder Zeichnen.
Schulassoziierte Störungen
Ein häufiges Problem bei Kindern und Jugendlichen sind schulassoziierte Störungen – das kann bedeuten: zurückgezogene oder aggressive Kinder, Schulvermeider und -verweigerer, Kinder und Jugendliche, die Angst vor der Schule haben, hochbegabte Kinder, die sozial auffällig sind, Kinder mit massiven Teilleistungsstörungen. Hier gilt es vor allem zu differenzieren zwischen Schulangst und -phobie: „Viele Kinder wollen nicht mehr in die Schule gehen, weil sie sich dort vor etwas fürchten, z. B. vor Mitschülern, Lehrern, Prüfungen. Diese Störung hat die Ursache im Kontext Schule. Bei der Schulangst muss man die Kinder entlasten: durch Gespräche mit Lehrern, mit Mitschülern, eventuell die Schule wechseln. Solche Probleme können Eltern oft alleine managen bzw. mit Hilfe von Schulsozialarbeitern“, sagt der Experte. 
Anders bei der Phobie: Sie wirkt sich genauso aus, die Ursache liegt jedoch nicht in der Schule, sie ist nur Projektionsfläche für etwas außerhalb. 
Hochgatterer nennt einige Beispiele: „Das Kind geht nicht in die Schule wegen der drohenden Trennung der Eltern, es will zuhause aufpassen. Oder das Kind hat durch die schwere Erkrankung eines Elternteils eine massive Bedrohung erlebt und hat nun Angst, dass die Mutter stirbt, wenn es das Haus verlässt. In solchen Fällen braucht es ganz klar professionelle therapeutische Hilfe, um das Problem bewusst zu machen.“ 
Problem Essstörung
Genauso bei Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht): Hier bedarf es dringend professioneller Hilfe, zudem gehen mit diesen Leiden auch große gesundheitliche Schäden einher. Bulimie ist oft nicht nur durch das selbst herbeigeführte Erbrechen nach dem Essen gekennzeichnet, sondern auch durch andere Symptome, beispielsweise fügen sich Betroffene selbst Verletzungen zu, etwa Brandwunden, oder schneiden sich mit Rasierklingen oder Glasscherben. Auch bei der Magersucht sind die Symptome einfach zu entdecken, schließlich werden die Betroffenen immer dünner. Hochgatterer appelliert eindringlich an alle Eltern, Freunde, Angehörigen, das gesamte Umfeld, aufmerksamer zu sein, den Mut zu haben, auf den betroffenen Teenie zuzugehen und nachzufragen: „Oft sagt niemand etwas und viele Betroffene kommen erst in körperlich desolatem Zustand zum Arzt. So weit sollte es nicht kommen, es gibt heutzutage viele Einrichtungen, die auf die Behandlung dieser Erkrankungen spezialisiert sind.“ Statistisch gesehen sind von Essstörungen vor allem Mädchen betroffen, die mit den emotionalen Spannungen ihrer Situation, also des Erwachsenwerdens, nicht alleine klarkommen: „Sie sollten unbedingt behandelt werden, eine solche Erkrankung verschwindet nicht von selbst“, mahnt der Kinderpsychiater.
Probleme offen ansprechen
Paulus Hochgatterer hat einen wichtigen Tipp parat: „Scheuen Sie nicht den direkten Kontakt. Wenn Sie sehen, dass ein Kind leidet, gehen Sie hin, fragen Sie nach – und schauen Sie nicht weg. Oft entlastet es das Kind schon, wenn es merkt, dass sein Leid wahrgenommen wird.“ Das gilt auch für kleine Kinder, denn sie verstehen mehr, als man denkt. Zu reden, Probleme offen anzusprechen, sei der erste wichtige Schritt weg vom Leiden, hin zu einem unbeschwerten Leben. Generell sei es besser, lieber zu früh als zu spät den Kontakt zum professionellen System, also Psychiater, Psychologen etc., zu suchen. Doch leider ist die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen, nach wie vor groß, weiß Hochgatterer: „Eltern glauben dann oft, in der Erziehung versagt zu haben. Sie fürchten den erhobenen Zeigefinger und meinen, dass die Probleme auch von selbst wieder verschwinden.“ Das ist leider oft nicht der Fall. Doch durch eine entsprechende Behandlung können Kinder und Jugendliche meist wieder ein relativ unbeeinträchtigtes Leben führen. Daher: Seien Sie wachsam, sprechen Sie Probleme offen an und holen Sie sich gegebenenfalls professionelle Hilfe!
FOTO: istockpohoto
Kinder- und Jugendpsychiatrie in NÖ
In Niederösterreich gibt es drei Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie: in Tulln, Mödling/Hinterbrühl und Mauer/Amstetten. Dieses flächendeckende Angebot wurde mit Eröffnung der Abteilung in Tulln im Jahr 2007 gemäß dem NÖ Psychiatrieplan erreicht. Damit wurde dem Bedarf an stationären und teilstationären Behandlungsleistungen besser als zuvor entsprochen. Auf Grundlage der 2007 erfolgten Anerkennung des Sonderfaches „Kinder- und Jugendpsychiatrie“ als eigene medizinische Fachrichtung hat sich auch die außerstationäre Versorgung verbessert. Ein wichtiger Schritt, denn psychiatrische Krankheitsbilder stellen sich bei Kindern oft völlig anders dar als bei Erwachsenen. Im Zuge dieser Entwicklung können nun Kinder und Jugendliche in NÖ auf Krankenkassenkosten bei niedergelassenen Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt werden.
Mobile Unterstützung ausgebaut
Das Land NÖ investiert mehr Geld in die mobile Betreuung von Familien. Im Jahr 2012 wurden rund 5,8 Mio. Euro investiert, 2014 werden es rund 12,8 Mio. Euro sein – eine Steigerung von 119 Prozent. Für Hilfen, die eingesetzt werden, bevor „Feuer am Dach“ ist, etwa mobile Erziehungsberatung, Familienhilfe Plus oder auch Familienintensivbetreuung, die direkt zu den Familien kommen. „Wenn Familien eine Unterstützung benötigen, sind wir gefordert, zu helfen. Daher müssen wir die richtige Hilfe rechtzeitig zur Verfügung stellen. Mit dem Ausbau der mobilen Betreuung erreichen wir dieses Ziel“, erklärt Landesrat Mag. Karl Wilfing.
Psychotherapie auf Kassenkosten
Seit zehn Jahren bietet die NÖ Gebietskrankenkasse Psychotherapie auf Kassekosten über „Vertragsvereine“ an. Im Vorjahr wurde zudem eine „Clearingstelle für Psychotherapie“ zur zielsicheren und raschen Vergabe von Therapieplätzen eingerichtet. Einziger Wermutstropfen bisher: Wegen vertraglich vereinbarter Stundenkontingente mussten junge Patienten auf die kostenlose Therapie teilweise einige Wochen warten. Die gute Nachricht: Diese Deckelung ist ab 1. Jänner 2014 aufgehoben, Kinder und Jugendliche haben nun unlimitierten Zugang zu Psychotherapie. Auch die Stundenkontingente für Erwachsene wurden deutlich ausgeweitet.






