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Groß, stark & gut

Wie es gelingen kann, Kindern Orientierung zu geben und Werte zu vermitteln.


Univ.-Ass. Mag. Helena Stockinger, Psychologin, Philosophin, katholische Theologin und Religionspädagogin, Universität Wien

Wenn der dreijährige Sprössling sein Spielzeug partout nicht mit dem eingeladenen Nachbarskind teilen will, sich weigert, bitte und danke zu sagen oder seine Kindergartenfreunde rempelt und haut, kann das schon mal die Schamesröte ins elterliche Gesicht steigen lassen. Wie – um Himmels willen – wird aus dem kleinen Rabauken eine reife, mit­fühlende und moralisch integre Persönlichkeit, die Verantwortung für andere und sich selbst übernehmen kann? Und wie kann man dem eigenen Nachwuchs Werte vermitteln, die einem selbst wichtig sind? Mit klugen Sprüchen, rationalen Erklärungen und zurechtweisenden Worten allein erreicht man wenig. „Grundlage ist eine positive Beziehung der Eltern zum Kind, die sich durch einen konstruktiven, unterstützenden Erziehungsstil auszeichnet. Die Art der frühen Eltern-Kind-Interaktion bereitet den Boden für die Moral­entwicklung des Kindes“, sagt die katholische Theologin und Religionspädagogin Mag. Helena Stockinger, die an der Universität Wien im Bereich Elementarpädagogik forscht. Und: „Besonders wichtig ist die Vorbildfunktion der Eltern.“

Gutes Vorbild sein

Dass Kinder vor allem durch das geprägt werden, was man ihnen vorlebt, klingt logisch und ist wahrscheinlich das, was Kindererziehung nicht selten herausfordernd macht. Martina und Herbert Heigl aus Wieselburg, Eltern von fünf Kindern zwischen drei Monaten und vierzehn Jahren, machen diese Erfahrung tagtäglich: „Den größten Teil unserer Erziehung macht die Vorbildwirkung aus. Im Positiven und leider auch im Negativen.“  
Das Ehepaar findet es wichtig, dass seine Kinder selbst entdecken, was richtig oder falsch ist. „Wir wollen ihnen keine Werte ‚anerziehen‘, sondern glauben, dass jedem Menschen Werte ins Herz geschrieben sind. Unsere Aufgabe als Eltern ist es, ihnen zu helfen, zu erfahren, wie schön und befriedigend es sein kann, danach zu handeln“, erklären die beiden. Respekt, Rücksicht vor allem Schwächeren gegenüber, Aufrichtigkeit  und Verantwortung für sich und andere übernehmen: für die Heigls ureigenste menschliche Werte.

In Stufen zur moralischen Reife

Moralische Reife und damit die Fähigkeit, zwischen gut und böse bzw. richtig und falsch zu unterscheiden, wird in mehreren Stufen erreicht. Eines der Modelle, die diesen Prozess der Moralentwicklung beschreiben, stammt vom US-amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg. Er unterscheidet präkonventionelles, konventionelles und postkonventionelles moralisches Denken. Auf der ersten Stufe ist das moralische Denken selbstbezogen, auf der Stufe des konventionellen moralischen Denkens ist es an sozialen Beziehungen orientiert und auf der letzten Stufe ist es an Idealen ausgerichtet. Es ist demnach also völlig normal, wenn der dreijährige Valentin Heigl sich ganz stark an seinen eigenen Bedürfnissen orientiert und das für richtig hält, was er will. Seine Mutter erzählt: „Valentin liebt sein Frühstücksei und isst es immer ganz schnell. Dann will er das seiner Schwester und findet es gemein und unfair, wenn er es nicht kriegt.“ Valentins Schwester, die fünfjährige Veronika, hat schon sehr klare Vorstellungen davon, was richtig und was falsch ist. „Veronika hat ein starkes Schwarz-Weiß-Denken“, sagt ihr Vater. „Es trifft sie immer sehr hart, wenn sie etwas falsch gemacht hat, und sie tut sich schwer sich zu ver­zeihen. Für sie ist klar: Gute Menschen tun Gutes, böse Menschen Böses.“ Die beiden großen Mädchen, zwölf und vierzehn Jahre, differenzieren viel mehr und berücksichtigen die Umstände und die Beweggründe der handelnden Personen. Für ihr eigenes Tun übernehmen die beiden schon recht gut Verantwortung, berichtet Martina Heigl: „Manchmal merkt man aber ihre Unreife, zum Beispiel wenn sie sagen: ‚So schlimm ist das ja gar nicht‘ oder ‚Das machen ja alle so‘. Aber das hört man ja auch oft bei Erwachsenen noch.“

Sich entschuldigen

Ab etwa zwei Jahren beginnen Kinder, erste Anzeichen von Schuldgefühlen zu zeigen. „Wir müssen den Kindern die Möglichkeit geben, die Konsequenzen ihres Tuns zu sehen“, betont Herbert Heigl. Das Ehepaar Heigl lenkt den Blick der Kinder auf die Gefühle und Gedanken der anderen und fragt: „Wie würdest du dich fühlen, wenn ...?“
Stockinger bestätigt das: „Zurechtweisungen anhand logischer Erklärungen und Schilderungen, wie es dem anderen geht, zeigen dem Kind die Folgen des eigenen Handelns.“ Kinder lernen so, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen und sich zu entschuldigen. „Sich bei einem anderen Kind zu entschuldigen soll nicht erzwungen werden“, sagt die Theologin. Martina und Herbert Heigl sehen das genauso: „Oft können sich die Kinder nicht in der Situation entschuldigen, dann muss man ihnen Zeit geben. Wir helfen ihnen, sich in die anderen hineinzuversetzen.“ Wesentlich für die Heigls ist, dass die Kinder erleben, wie sich die Eltern bei ihnen entschuldigen. „Viele glauben, dass das die Autorität der Eltern untergräbt, aber es zeigt, dass wir nicht willkürlich Macht ausüben, sondern auch Verantwortung für unser Handeln übernehmen.“

Empathie lernen

Wenn Kinder mit etwa zwei Jahren sich selbst als Person wahrnehmen und beginnen ihre Persönlichkeit zu entwickeln, nehmen sie zunehmend die Gefühle ihrer Mitmenschen immer deutlicher wahr. „Selbst Säuglinge reagieren aufmerksam auf das Unbehagen anderer Säuglinge. Kleinkinder reagieren manchmal auf das Leid des anderen mit traurigem Ausdruck oder versuchen, anderen Kindern zu helfen. Im Allgemeinen steigt dieses Verhalten mit dem Alter des Kindes“, erklärt Helena Stockinger. Zu Beginn wendet das Kind eher Verhaltensweisen an, die es selbst gerne mag, beispielsweise bringt es dem weinenden Kind das eigene Kuscheltier. Mit der Zeit lernt das Kind, was die weinende Person möglicherweise wirklich mag und bringt beispielsweise das Kuscheltier, das das weinende Kind besonders mag. Martina und Herbert Heigl sehen bei ihren Kindern, dass diese andere so trösten, wie sie es selbst erleben. Der dreijährige Valentin wendet sich seiner weinenden drei Monate alten Schwester Lucia so zu, wie er es von seinen Eltern sieht. Das Heiglsche Credo lautet: Mit Trost und liebevoller Zuwendung immer verschwenderisch umgehen und die Gefühle der Kinder ernst nehmen: „Wenn sich ein Kind wehtut und ein Pflaster will, kriegt es eines, auch wenn ich gar keine Verletzung sehe“, sagt Herbert Heigl.

Lieblingspuppe nicht teilen

Es ist nicht ungewöhnlich, wenn ein kleines Kind sein Spielzeug nicht teilen will. Es definiert sich sehr stark über Dinge und muss erst lernen, dass der Kuschelhase sein Eigentum bleibt, auch wenn jemand anderer damit spielt. Im Hause Heigl ist grundsätzlich klar, was wem gehört. Der Eigen­tümer hat das Vorrecht über seine Sachen. Die Beziehung zu den anderen darf aber darunter nicht leiden. Konkret heißt das: Der kleine Valentin darf das Bausteinhaus seiner Schwester nicht einfach mit brachialer Gewalt zerstören, weil sie seine Steine verwendet hat. Bittet er aber um die Steine, weil er damit etwas bauen will, muss sie sie ihm geben. Sind andere Kinder zu Gast, müssen die Lieblingspuppe oder das heißgeliebte neue Feuerwehrauto nicht geteilt werden. Die werden am besten vor dem Besuch weggeräumt. Wenn Kinder in der Sandkiste um die Schaufel streiten, darf man ruhig einmal abwarten und zuschauen, wie sie ihren Konflikt lösen. Helena Stockinger empfiehlt: „Kinder sollen die Chance haben, in schwierigen Situationen mit Gleichaltrigen selbst zu agieren. Es ist nicht gut, sofort alle sozialen Probleme für das Kind zu lösen.“