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Gefangen im Netz

Das Internet begleitet uns im Büro, zu Hause und unterwegs. Es erleichtert uns vieles, es unterhält und informiert uns. Doch eine zu häufige und intensive Internetnutzung kann auch problematisch sein.


Illustration: Kathi Müllner

Prof. Dr. Michael Musalek, ärztlicher Direktor des Anton-Proksch-Instituts, der größten Suchtklinik Europas, in der alle Formen von Sucht behandelt werden.

MMag. Birgit Wenty, Klinische und Gesundheitspsychologin der Fachstelle NÖ mit dem Schwerpunkt Internet- und Computerspielsucht, hat neben Psychologie auch Medienwissenschaften studiert und leitet Projekte zur Förderung von Medien­kompetenz in niederösterreichischen Schulen.

Wenn die Tochter ständig am Smartphone hängt und der Sohn jeden Tag mehrere Stunden lang am Computer spielt, ist das nicht unbedingt ein Grund zur Sorge. Ein solches Verhalten ist normal und gehört zum Alltag der Generation Internet. Eltern sollten sich jedoch Gedanken machen, warum ihr Kind so viel Zeit im Internet verbringt. Zwischen einem halben und drei Prozent der österreichischen Bevölkerung sind onlinesüchtig, schätzen Experten. An der Dauer der Internetnutzung kann man die Sucht allerdings nur bedingt festmachen, erklärt MMag. Birgit Wenty, Projektleiterin bei der Fachstelle NÖ. „Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Sucht sind fast immer persönliche Probleme und negative Erfahrungen in der realen Welt, die durch das Internet kompensiert werden. Eine Nutzungsdauer von über 35 Stunden pro Woche – ohne dabei das Internet für schulische oder berufliche Zwecke zu nutzen – kann ein Hinweis auf ein pathologisches Verhalten sein, das in jedem Fall therapiert werden muss.“

Psychische Störungen

Eine Sucht kommt praktisch nie alleine. Meist treten noch andere psychische Störungen wie Angststörungen oder Depressionen auf. Die vorrangig jungen Menschen ziehen sich zurück und kommunizieren nur mehr online, und das in einer Phase, in der sie normalerweise den Umgang mit anderen, vor allem dem anderen Geschlecht, erlernen sollten. Also zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr. Verpassen sie diesen Prozess, kommt es zu einer massiven Sozialstörung, die behandelt werden muss. „Die Jugendlichen weisen schwere Defizite auf. Sie werden zu schwer isolierten Menschen, die sich den ganzen Tag in ihrem Zimmer einsperren und oft auf mehreren Computern gleichzeitig spielen, um Befriedigung zu erreichen“, weiß Prof. Dr. Michael Musalek, ärztlicher Direktor des Anton-Proksch-Instituts, wo alle Formen von Sucht behandelt werden.

Kontrollverlust

Aber auch Erwachsene können der Onlinesucht verfallen. Man unterscheidet zwischen drei Hauptgruppen von Betroffenen:

  • jenen, die ihre Glücksspielsucht über das Internet ausleben,
  • jenen, die Persönlichkeitsspiele wie „World of Warcraft“ spielen und
  • jenen, die vor allem in Sozialen Netzwerken aktiv sind.

„Das zentrale Phänomen der Sucht ist immer der Kontrollverlust“, erklärt Musalek, „man kann nicht mehr kontrollieren, wann man damit aufhört. Wie viel und wie lange man sich im Internet bewegt.“ Dies führt meist nicht nur zu Schlaf­störungen, Angststörungen und Depressionen, sondern auch zu körperlichen Symptomen wie einer erhöhten Herzfrequenz, erhöhtem Blutdruck und Übergewicht, weil sich die Betroffenen kaum mehr vom Computer wegbewegen. Sie ernähren sich meist nur noch von Fast Food und trinken Kaffee oder Energy-Drinks, um wach zu bleiben. Bei einem Patienten von Musalek führte das zu einem Nierenversagen. Er überlebte nur knapp.
Da die Onlinesucht mit starker Scham einhergeht, kommen die Patienten meist erst sehr spät in die Behandlung. Diese ist zwar sehr erfolgreich, muss allerdings vom Betroffenen gewollt werden. Eltern können ihr Kind nicht dazu zwingen. Es mache auch keinen Sinn, als Familienmitglied eine Diagnose zu stellen, findet
Musalek: „Man muss das Problem ansprechen. Wenn sich ein Jugendlicher nicht mehr für Fußball und Freunde interessiert, dann muss etwas dagegen getan werden. Aber die Sucht selbst soll ein Arzt feststellen. Nicht die Mama oder der Papa.“
Die Behandlung kann dann mit einem stationären Aufenthalt von mehreren Wochen in einer Suchteinrichtung beginnen. In Niederösterreich gibt es Suchtberatungsstellen, die kostenlos ambulante Unterstützung bei Internet- und Computerspielsucht anbieten. Im Rahmen der Behandlung werden mit den Betroffenen Ziele erarbeitet, wie Birgit Wenty schildert: „Zunächst ist es wichtig, dass die problematische Form der Nutzung, zum Beispiel ein bestimmtes Onlinespiel, dauerhaft aufgegeben wird. Dazu wird gemeinsam ein Vertrag aufgesetzt, in dem die Vereinbarungen zum Ausstieg klar definiert sind.“ Zum Beispiel das Löschen des Spieler­profils und die Verabschiedung aus der virtuellen Gemeinschaft.

Therapie

„Oft gehen die Spiele oder die Sozialen Netzwerke den Betroffenen nach der Behandlung gar nicht mehr ab“, erzählt Musalek, „denn im Zuge der Therapie reichern wir das Leben des Patienten mit so viel Schönem an, dass das Suchtmittel zum Störfaktor wird. Er sucht sich neue Lebensperspektiven oder – am wirksamsten – eine Beziehung. Dann wird das, was vorher so wichtig war, plötzlich völlig unwichtig.“ Die Behandlung im Anton-Proksch-Institut wird von der Krankenkasse bezahlt und dauert, je nach Ausprägung, mehrere Wochen. „Der Patient sollte sofort zu Experten gehen, denn ein Hausarzt ist mit Onlinesucht meistens überfordert“, findet Musalek. „Jeden Tag gibt es ein neues Spiel oder einen neuen Internettrend, den die Therapeuten kennen müssen.“ Im Moment ist „Pokemon Go“ ein solcher Trend. Allerdings sind sich Wenty und Musalek einig, dass das ein Hype ist, der bald vorbeigehen wird und deshalb in den wenigsten Fällen zur Sucht führt.

Informationen & Beratung

In NÖ gibt es vier Sucht­beratungsstellen, die auf Internet- und Computerspielsucht spezialisiert sind:

  • Baden, Tel.: 01/880101370
  • Mistelbach, Tel.: 02572/20327
  • St. Pölten, Tel.: 0676/83844581
  • Wiener Neustadt, Tel.: 01/880101380 www.fachstelle.at
  • Anton-Proksch-Institut
    Die größte Suchtklinik Europas, im südlichen Wien gelegen, ist umgangssprachlich auch als „Kalksburg“ bekannt. Alle Formen von Sucht werden dort stationär oder ambulant behandelt.
    Tel.: 01/880100, www.antonprokschinstitut.at

6 Kriterien, die auf eine Sucht hinweisen können

  1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, ein Suchtmittel zu konsumieren.
  2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums des Suchtmittels.
  3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums.
  4. Nachweis einer Toleranz: Um die ursprünglich durch niedrigere Mengen des Suchtmittels erreichten Wirkungen hervorzurufen, sind zunehmend höhere Mengen erforderlich.
  5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen und Vergnügen zugunsten des Suchtmittelkonsums und/oder erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
  6. Anhaltender Substanzgebrauch trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (körperlicher, psychischer oder sozialer Art).

Sind mindestens drei dieser sechs Kriterien erfüllt, spricht man von einer Abhängigkeit (ICD 10-Suchtkriterien der WHO).

Buchtipp: Die Sucht gewinnt zu oft

Lorenz Gallmetzer: Süchtig. Von Alkohol bis Glücksspiel: Abhängige erzählen. Lorenz Gallmetzer war jahrelang ORF-Korrespondent in Washington und Paris, und er war Alkoholiker. Über viele Jahre glaubte er, die Sucht unter Kontrolle zu haben, verordnete sich immer wieder Zeiten ohne Alkohol. Doch als sich – er war bereits über 60 – die Lebensumstände änderten, sah er, dass die Sucht stärker war als sein Lebenswille und seine Energie. Er ließ sich in Kalksburg, der größten Suchtklinik Europas, auf einen Entzug ein – und setzte sich auch mit seinen Leidensgenossinnen und -genossen und deren Süchten auseinander. Oft gibt es in den Biografien Gewalterfahrungen. Aber auch Stress und Versagensängste spielen eine wichtige Rolle. Gallmetzer, der Journalist, führte lange Gespräche mit dem Leiter der Klinik. All dies kann man in seinem Buch nachlesen. Es ist ein berührendes Zeugnis vom Ringen mit Süchten, vom Hoffen, Verzweifeln und darüber, dass der Weg aus der Sucht einer zu sich selbst sein muss, zu einem Anerkennen und Annehmen der eigenen Bedürfnisse und zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensthemen.
ISBN: 978-3-218-01039-9, 22 Euro, auch als E-Book erhältlich

Die Handy-Challenge   

Sind Sie süchtig? Handy-süchtig? Kommunikations-süchtig? Süchtig nach dem nächsten Facebook-Like und den neuesten Instagram-Bildern, dem nächsten Snapchat-Video oder den aktuellen Twitter-Tweets zu Ihrem Lieblingsthema? Dann sind Sie hier richtig. Wir suchen nämlich genau Sie.
Die Challenge: Schaffen Sie es, eine Woche lang auf Ihr Handy zu verzichten? Der Deal: Sie geben es uns und schreiben eine Woche lang Tagebuch: Wie fühlt es sich an ohne Handy? Wann läuft es gut, wann nicht? Wie schaffen Sie es, ohne die Dauerkommunikation auszukommen? Und was verändert sich dadurch?

Wenn Sie teilnehmen wollen, schreiben Sie unter dem Stichwort „Challenge“ an: redaktion(at)gesundundleben.at oder Redaktion GESUND&LEBEN, ÄrzteVerlag, Währingerstraße 65, 1090 Wien.
Einsendeschluss: 30. November 2016
Die ersten 20 Einsenderinnen und Einsender bekommen ein Gesundheitspaket der Initiative »Tut gut!«. Aus den Einsendungen wird der Sieger gezogen, der sich der Challenge stellt. Als Preis dafür gibt’s einen Gutschein für zwei Personen, drei Nächte mit Halbpension und einer Wellnessbehandlung pro Person im Hotel Post Lermoos/Tirol.