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Die Zeitbombe im Kopf

65.000 Menschen in Österreich leiden an Epilepsie. Die möglichen Anfälle sowie die Therapie sind enorm belastend – aber manchmal gibt es auch ein Happy End, wie bei Steffi aus Niederösterreich.


Ein eingespieltes Team: Steffi und Hündin Nala. FOTO: Jana Meixner

Steffi G. sitzt an ihrem Schreibtisch im Landesklinikum Gmünd, vor ihr Papierkram und der Computer. Sie ist in der Verwaltung verantwortlich für das Einscannen und Archivieren von Befunden. Wie jeden Morgen ist sie mit ihrem Auto zur Arbeit gefahren. Ein ganz normaler Arbeitsalltag. Nicht für Steffi: Vor ein paar Jahren war ihr Leben noch ein ganz anderes. Den Führerschein zu machen und gar ein eigenes Auto zu fahren wäre für die Einundzwanzigjährige undenkbar gewesen. Steffi hatte schwere Epilepsie. Durchschnittlich zwei Anfälle pro Woche, meist musste die Rettung verständigt werden, weil sie nicht von selbst aufhörten. Die Diagnose erhielt Steffi mit zwei Jahren, als sie mit Fieberkrämpfen ins Krankenhaus musste. Von da an bestimmte die Krankheit ihr Leben.

Erkrankung des Gehirns

Steffi ist eine von ungefähr 65.000 Menschen in Österreich, die von der Krankheit Epilepsie direkt betroffen sind. Nimmt man deren Angehörige dazu, kommt man auf ein Vielfaches von indirekt Betroffenen, die damit zu leben haben. Mindestens vier Prozent aller Menschen haben einmal in ihrem Leben die Diagnose erhalten oder leiden noch immer darunter, was die Epilepsie zu einer der häufigsten Erkrankungen des Gehirns macht. Jeder kann irgendwann in seinem Leben von einem epileptischen Anfall betroffen sein. Trotzdem gilt Epilepsie noch immer als unverstandene und stark stigmatisierte Krankheit. Ein möglicher Anfall macht den Mitmenschen oftmals mehr Angst als den Betroffenen selbst. „Im Vergleich zu anderen Krankheiten wie Herzinfarkt oder Krebs zum Beispiel ist das Wissen der Bevölkerung über Epilepsie sehr gering“, bestätigt Prim. Priv.-Doz. Dr. Stefan Oberndorfer, Leiter der Neurologie und Neurologischen Ambulanz im Landesklinikum St. Pölten. „Der Epileptiker wird häufig als behindert eingestuft und mit Vorurteilen behaftet.“ Auch Steffi hatte mit diesen Problemen zu kämpfen: „Die Leute sind verschreckt und haben keine Ahnung von der Krankheit.“

Aus heiterem Himmel

Bei Steffi war ein Schlaganfall im Mutterleib der Grund für die Erkrankung – ein Schicksalsschlag, dessen Ursache man in Steffis Fall nicht kennt. Deshalb haben sich Teile des Gehirns in ihrer Struktur nicht optimal entwickeln können.  Epilepsie kann viele ganz verschiedene Ursachen haben (siehe unten) und in jedem Lebensalter auftreten. Epileptische Anfälle können wie aus heiterem Himmel passieren, werden aber unter anderem durch emotionalen Stress oder Übererregung ausgelöst; bei Steffi war es oft die Aufregung vor Prüfungen in der Schule oder vor anderen großen Ereignissen. In den meisten Fällen kündigt sich ein Anfall dem Betroffenen ein paar Sekunden bis Minuten vorher an, durch die sogenannte „Aura“. Steffi sah etwa plötzlich Dinge, die nicht da waren.
Genauso vielfältig und komplex wie die Funktionen des menschlichen Gehirns sind auch die Arten, wie sich ein solcher Anfall darstellen kann. Je nachdem, in welchem Hirnareal die Schädigung lokalisiert ist, kann der Betroffene zum Beispiel an Zuckungen einzelner Körperteile leiden, an plötzlicher Geistesabwesenheit, bis hin zum sogenannten Grand-Mal-Anfall, der mit Bewusstseinsverlust, Krämpfen und oftmals Zungenbiss einhergeht. Lebensgefahr besteht, wenn ein Anfall nicht von selbst wieder aufhört oder länger als 30 Minuten dauert. Steffi verlor nie ganz das Bewusstsein bei einem Anfall, aber ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. Es fing mit Halluzinationen an, ihr Körper krampfte und sie schlief daraufhin meist völlig erschöpft ein. Wieder erwacht, konnte sie sich an das Geschehene nicht erinnern.
Ein Anfall ist für Angehörige und Beobachter oft eine furchterregende Sache, vor allem wenn sie nicht damit rechnen. „Epilepsie sieht man in der Öffentlichkeit nicht, man trägt ja kein Erkennungszeichen, wie zum Beispiel ein Blinder. Ein Anfall kommt dann für alle wie aus heiterem Himmel“, erzählt Steffi, die über sechzehn Jahre regelmäßig Anfälle hatte. „Ich hatte eigentlich nie wirklich Angst, nur diejenigen, die bei mir waren. Für Angehörige oder Umstehende ist es viel schlimmer als für einen selbst. Ich hätte vermutlich auch Angst, wenn ich jemanden sehen würde, der gerade einen Anfall hat, und wüsste vielleicht auch nicht, was ich in dieser Situation tun sollte.“ Ein Epileptiker kann überall und in jeder Situation einen Anfall haben. Genauso kann jeder einmal in die Situation kommen, Ersthelfer zu sein. Was man dann tun sollte?  Wichtig ist, den Betroffenen vor Verletzungen zu bewahren und vor dem Ersticken zu schützen (siehe unten).

Das Damoklesschwert

„Durch die ständige Möglichkeit eines Anfalls sind an Epilepsie Erkrankte in ihrem Alltag oft stark beeinträchtigt“, weiß Oberndorfer aus jahrzehntelanger Erfahrung mit Patienten. Gerade für eine junge Frau wie Steffi bedeutete dies große Einschränkungen: „Das allergrößte Problem für mich war die fehlende Selbstständigkeit. Keiner hat mir etwas zugetraut, es gab keine Freiheit, ich war nie allein.“ Dass sie nie mit Gleichaltrigen weggehen konnte, immer unter Beobachtung stand und natürlich auch kein Auto lenken durfte, setzte der jungen Frau besonders zu. Auch Sportarten wie Schwimmen oder Radfahren waren verboten – zu groß wäre die Gefahr eines plötzlichen Anfalls gewesen. Nur das Reiten war eine Leidenschaft, die sie sich nicht nehmen ließ. In der Schule war sie oft eine Außenseiterin, schon die Möglichkeit eines Anfalls habe vielen Mitschülern Angst gemacht. Das Lernen war schwierig für Steffi. „Ich habe in der Schule doppelt so lange wie alle anderen gebraucht, um neue Sachen zu verstehen“, erinnert sie sich. Hatte sie einen Anfall am Tag vor einem Test, was oft geschah wegen der Nervosität, war das zuvor mühsam Gelernte oft mit einem Schlag ausradiert und sie musste wieder von vorne anfangen. „Da geht ja nichts weiter im Leben!“, lacht sie heute. Ihren Humor hat sie nicht verloren, ganz im Gegenteil.

Eingeschränkte Lebensqualität

Die Lebensqualität von Epileptikern ist durch zwei Dinge beeinträchtigt und belastet, erklärt Neurologe Oberndorfer: „Erstens durch die ständige Möglichkeit eines Anfalls und zweitens durch mögliche Nebenwirkungen der Medikamente. Man kann vorher auch nicht sagen, welcher Patient auf welches Medikament anspricht.“ Steffi hat unzählige verschiedene Präparate „durchprobiert“, bis ihr endlich eines geholfen hat. Zehn Jahre hat sie gut mit einem Medikament gelebt; bis vor ein paar Jahren plötzlich wieder Anfälle auftraten. Zu dieser Zeit war Steffi gerade siebzehn und wollte den Führerschein, von dem ihr ihre Ärzte prognostizierten, sie würde ihn niemals kriegen. „Da war für mich klar: Jetzt will ich eine Operation“, erzählt die junge Frau mit dem unglaublichem Kampfgeist. Acht Stunden arbeiteten die Chirurgen an Steffis Gehirn. Damit die außer Kontrolle geratenen elektrischen Ströme nicht mehr auf das gesamte Hirn übergreifen konnten, wurde der betroffene Teil mittels Laser vom Rest getrennt. Nicht immer ist so eine Operation möglich, etwa wenn das betroffene Areal an einer ungünstigen Stelle und von außen nicht zugänglich ist. Auch bei Steffi war das Unterfangen, wie jede Operation am offenen Gehirn, mit einem gewissen Risiko verbunden. Angst hatte sie dennoch keine, erzählt Steffi. Für sie kam zu diesem Zeitpunkt keine Alternative mehr in Frage.

Vierbeinige Hilfe

Seit zwei Jahren ist Steffi nun anfallsfrei. Ebenfalls seit zwei Jahren hat sie eine fixe Arbeitsstelle als medizinische Schreibkraft im Landesklinikum Gmünd und endlich ihren großen Traum erfüllt: ein eigenes Auto. Sie hat den Führerschein und kann gehen, wohin auch immer sie möchte. Allein. Die neu gewonnene Unabhängigkeit ist für sie ein kostbares und noch ein bisschen ungewohntes Gut. Das Thema Epilepsie ist für sie aber damit keineswegs abgeschlossen. Während ihrer Krankheit und jetzt umso mehr war und ist die junge Frau im Sinne der Aufklärung unterwegs. Sie spricht öffentlich über ihre Erfahrungen und betätigt sich aktiv daran, die Krankheit auch in der Gesundheitspolitik aus der Tabu-Ecke zu holen.
Besonders wichtig ist ihr die Diskussion um die Förderung speziell ausgebildeter Epilepsiehunde. Die Kosten eines speziell trainierten Hundes belaufen sich auf circa 10.000 Euro und es gab bis dato keine finanzielle Unterstützung, die Betroffenen mussten selbst für die enormen Kosten aufkommen. Ein Problem, an dessen Lösung sich Steffi aktiv beteiligte, indem sie den Standpunkt einer direkt Betroffenen einbrachte. Mit Erfolg, denn ab sofort haben die Tiere den Status eines Behindertenhundes. Das heißt, sie dürfen ihre Besitzer überall hin begleiten, auch in öffentliche Gebäude und müssen nicht wie normale Hunde draußen bleiben.
Steffi hat ihre Hündin Nala sehr geholfen. Sie weiß, welchen Gewinn an Lebensqualität so ein Hund bedeuten kann. Nala hatte gelernt, Anfälle schon vorher zu erkennen und Notrufe abzusetzen, sie gab Steffi und ihrer Familie mehr Sicherheit. „Es war einfach beruhigend, dass sie da war. Sie hat meine Selbstständigkeit sehr vergrößert“, ist sich die junge Frau sicher. Heute muss die Hündin keine Notsituationen mehr meistern. Sie ist einfach ein geliebtes Mitglied der Familie, das Steffi trotzdem noch überallhin begleitet.

Epilepsie – was man wissen muss und was zu tun ist

Epilepsie kann viele ganz verschiedene Ursachen haben. Zur Erkrankung führen kann alles, was zu einer Umstrukturierung oder zum Untergang von Hirngewebe führt, wie etwa ein Schädel-Hirn-Trauma, Entzündungen des Gehirns oder der Hirnhäute (Enzephalitis bzw. Meningitis), Hirntumore genauso wie angeborene Fehlbildungen oder Drogenmissbrauch. Sehr oft gibt es auch gar keinen ersichtlichen Grund für die Erkrankung. Man spricht dann von idiopathischer Epilepsie. Epilepsie kann in jedem Lebensalter auftreten. Ein Großteil wird im frühen Kindesalter diagnostiziert, danach sinkt die Wahrscheinlichkeit, erstmals zu erkranken. Um das siebzigste Lebensjahr steigt die Zahl der Betroffenen jedoch erneut an, was sich durch den stetigen Abbau von Hirnsubstanz im Alter erklären lässt.

Anfälle: Das Hirn besteht aus unzähligen Nervenzellen, die mittels elektrischer Impulse Informationen weiterleiten. Durch Vernarbungen oder Fehlverschaltungen, wie sie zum Beispiel bei einem Schlaganfall oder schweren Verletzungen entstehen können, kann diese elektrische Erregung plötzlich unkontrolliert zu kreisen beginnen und unangemessen stark werden. Der Betroffene hat einen epileptischen Anfall. Das kann wie aus heiterem Himmel passieren, wird aber unter anderem durch emotionalen Stress oder Übererregung ausgelöst. Blitzlichter, das Flackern einer Kerze und Schlafentzug sind ebenfalls typische Auslöser für epileptische Anfälle. In den meisten Fällen kündigt sich ein Anfall dem Betroffenen ein paar Sekunden bis Minuten vorher an, durch die sogenannte „Aura“. Das kann jede Art von plötzlicher, unangemessener Empfindung sein, die von Mensch zu Mensch verschieden ist. Manche Menschen sehen plötzlich Dinge, die nicht da sind, andere riechen bestimmte Gerüche oder fühlen sich einfach anders, kurz bevor es losgeht.
Genauso vielfältig und komplex wie die Funktionen des menschlichen Gehirns sind auch die Arten, wie sich ein solcher Anfall darstellen kann. Je nachdem, in welchem Hirnareal die Schädigung lokalisiert ist, kann der Betroffene zum Beispiel an Zuckungen einzelner Körperteile leiden, an plötzlicher Geistesabwesenheit, bis hin zum sogenannten Grand-Mal-Anfall, der mit Bewusstseinsverlust, Krämpfen und oftmals Zungenbiss einhergeht. Lebensgefahr besteht, wenn ein Anfall nicht von selbst wieder aufhört oder länger als 30 Minuten dauert. Dann spricht man vom „Status epilepticus“, der sofort mit Medikamenten therapiert werden muss, da sonst mit bleibenden Schäden am Gehirn zu rechnen ist.

Was tun bei einem Anfall? Ein Epileptiker kann überall und in jeder Situation einen Anfall haben. Genauso kann jeder einmal in die Situation kommen, Ersthelfer zu sein. Wie verhält man sich im Ernstfall am besten? „Das einzig Falsche, das man tun kann, ist, gar nichts zu tun“, betont Experte Oberndorfer. „Zuerst muss sichergestellt werden, dass sich der Betroffene nicht verletzt. Das heißt, man sollte gefährliche Gegenstände aus dem Weg räumen. Ist die Person bewusstlos, sollte sie in die stabile Seitenlage gebracht werden, um zu vermeiden, dass zum Beispiel Erbrochenes eingeatmet wird.“ Um Ersticken zu verhindern, sollten Fremdkörper wenn möglich aus dem Mund entfernt werden, doch rät Oberndorfer vom Zupacken mit der Hand dringend ab: „Während des Krampfens entwickelt sich eine ungeheure Beißkraft, da muss man sehr vorsichtig sein.“ Sobald der Betroffene vor Verletzungen geschützt ist, gilt für den unkundigen Ersthelfer in jedem Fall: Rettung rufen.

Therapie: Bis das richtige Medikament für den einzelnen Patienten gefunden ist, kann es dauern:  „Man kann vorher nicht sagen, welcher Patient auf welches Medikament anspricht, das kommt auf das Alter und das Geschlecht an und darauf, was der Patient im Alltag tut oder tun will“, erklärt Neurologe Oberndorfer. „Und die Medikamente haben natürlich auch Nebenwirkungen.“ Die reichen von vergleichsweise harmlosen Beschwerden wie Schwindel und Konzentrationsschwierigkeiten über Akne und Gewichtszunahme bis zu Wesensveränderungen und Halluzinationen. Circa 60 Prozent der Patienten können zufriedenstellend behandelt werden, sodass sie ein weitgehend normales Leben führen können.

 

Im Rahmen von „Treffpunkt Gesundheit“ hält Prim. Priv.-Doz. Dr. Stefan Oberndorfer am 10.03.2014 einen Vortrag im Landesklinikum Lilienfeld: Schlaganfall – Wettlauf mit der Zeit.

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