Der vermeintliche Sorgenbrecher
Alkohol ist in Österreich eine Volksdroge. Viele betreiben problematischen Umgang damit, nicht wenige geraten in den Teufelskreis der Abhängigkeit. Darüber zu sprechen ist nach wie vor ein großes Tabu.
Bei Erwin S.* (70) begann alles im Gefolge einer nicht erkannten Depression: „Als ich etwa 40 Jahre alt war, ging es mir psychisch sehr schlecht. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war, bemerkte aber bald, dass Alkohol mir enorme Erleichterung verschaffte. So begann ich regelmäßig und immer mehr zu trinken, wenn ich mit der Welt nicht mehr zurecht kam.“ Er sagt, dass er so in den Teufelskreis der Alkohol-Abhängigkeit geriet und Jahre brauchte, um wieder herauszukommen. Heute ist Erwin in einer Selbsthilfegruppe für von psychischer Krankheit Betroffene in Niederösterreich engagiert.
Damit ist Erwin S. ein geradezu typischer Fall eines psychisch erkrankten Menschen, der Alkohol als Medikament benutzte und so in eine fatale Falle tappte. „Ich bin davon überzeugt, dass Alkohol in Österreich das meist verbreitete ‚Antidepressivum‘ und ‚Anxiolytikum‘ ist, das die von Depression, Angststörungen, Schlafstörungen etc. Betroffenen als Selbstmedikation einsetzen, um ihre Grunderkrankung besser zu ertragen. Das ist leider in mehrfacher Hinsicht fatal“, sagt Prim. Dr. Christian Korbel, Leiter der 3. Psychiatrischen Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen im Landesklinikum Mauer. „In der Regel verschlechtert sich auf längere Sicht gesehen die Grunderkrankung durch den Missbrauch von Alkohol. Und wie man immer wieder sieht, geraten nicht wenige in Abhängigkeit von diesem vermeintlichen Sorgenbrecher.“
Häufigste psychische Erkrankung
Fünf Prozent aller Österreicher, das sind zwischen 330.000 und 350.000 Menschen, sind alkoholabhängig, weitere 13 Prozent – etwa 900.000 – betreiben einen sogenannten schädlichen Gebrauch, das heißt, sie haben ein Konsumverhalten, das zu einer Gesundheitsschädigung führt. Diese kann eine körperliche wie etwa eine Lebererkrankung oder psychische Störung wie zum Beispiel eine depressive Episode durch massiven Alkoholkonsum sein. Man sieht also, wie eng Depression und Alkohol auch vice versa miteinander verknüpft sind. Angesichts der steigenden Häufigkeit von Depressionen in unserer westlich-industrialisierten Welt nimmt es daher nicht wunder, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für 2030 prognostiziert, dass bei Männern die Alkoholabhängigkeit die am meisten verbreitete psychische Erkrankung sein wird.
Toxische Wirkung
Tatsächlich sind nach wie vor Männer häufiger als Frauen von diesem Problem betroffen. Obwohl die Frauen immer mehr „nachziehen“, ist der durchschnittliche Alkohol-Abhängige männlich und zwischen 30 und 50 Jahre alt. Seine Lebenserwartung ist um durchschnittlich 17 Jahre, die der betroffenen Frauen um 20 Jahre verringert. Etwa genauso lang dauert die Entwicklung der Alkoholabhängigkeit. Bis dahin geschieht allerdings schon sehr viel in Seele und Körper.
„Alkohol hat – unabhängig davon, ob man abhängig ist oder nicht – eine direkt toxische Wirkung auf Körperzellen und kann fast alle Organe schädigen, vor allem bei chronischem Gebrauch“, sagt Primarius Korbel. So kann es etwa zu Störungen im Immunsystem, Blutgerinnungsstörungen, Hautproblemen, Gleichgewichtsstörungen, Leber- und Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, Gehirnzellenabbau, Polyneuropathie und zu vielem anderen kommen. Und was häufig vergessen wird:
Alkoholkonsum in der Schwangerschaft kann den Embryo schädigen – im schlimmsten Fall in Form der Alkohol-Embryopathie, die sowohl geistige als auch körperliche Defizite des Kindes hervorruft.
Wen was trifft, ist individuell ganz unterschiedlich, und ebenso unterschiedlich sind die Verläufe bis zur Alkoholabhängigkeit und die Risikofaktoren, die der oder die Einzelne trägt. Als wissenschaftlich gesichert gilt, dass es eine familiäre Häufung gibt, das heißt, die Gefahr abhängig zu werden steigt, wenn Verwandte der ersten Linie schon abhängig waren. „Es gibt also so etwas wie eine genetische Grundausstattung, aber wir wissen noch nicht genau, ob die Alkoholabhängigkeit ‚vererbt‘ oder ‚abgeschaut und erlernt‘ ist. Zudem spielen noch andere Faktoren wie etwa der individuelle Einfluss des Alkohols auf das körpereigene Belohnungssystem, der von Mensch zu Mensch unterschiedliche Abbau von Alkohol im Körper oder auch kulturelle und soziale Faktoren eine Rolle“, erklärt Korbel.
„Es geht nicht nur um die Trinkmenge, sondern auch um die persönliche Veränderung der Betroffenen im Umgang mit der Substanz“, sagt der Experte außerdem. Wichtige Kriterien für die Definition der echten Abhängigkeit sind der unbezwingliche Drang, Alkohol zu konsumieren, die Toleranzentwicklung, die dazu führt, dass man immer größere Mengen Alkohol benötigt, um dieselbe Wirkung zu erzielen, und der Kontrollverlust, der einen dazu bringt, die Kontrolle über Menge und Zeitpunkt des Alkoholkonsums zu verlieren (siehe Selbsttest unten).
So erging es auch Erwin S. in den Jahren seiner schweren, unbehandelten Depression und daraus resultierender Alkoholabhängigkeit. „Schlussendlich führte alles bis zu einem Suizidversuch. „So kam ich damals in Gugging in Therapie, wo auch endlich meine Depression diagnostiziert und behandelt wurde, und dann ging es aufwärts. In einem langen Prozess konnte ich die Depression und die Alkoholabhängigkeit bewältigen.“ Erwin S. betont in diesem Zusammenhang, welch große Stütze ihm dabei seine Frau war, die immer zu ihm stand, und das ist beileibe nicht selbstverständlich, denn Alkoholismus zerstört in der Regel auch viele Beziehungen, und Angehörige sind oft extrem belastet.
„Jeder Mensch, der einem Alkoholiker nahesteht, ist unter ständigem Druck und überfordert. Deshalb braucht er Hilfe“, sagt eine anonym bleiben wollende Mitarbeiterin von Al-Anon, einer Angehörigen-Selbsthilfegruppe, die seit jeher nach den Prinzipien der 1935 in den USA gegründeten „Mutterorganisation“ der Anonymen Alkoholiker (AA) arbeitet. „Angehörige und Freunde leiden mit und werden oft selbst krank. In ihren verzweifelten Versuchen, Alkoholabhängigen zu helfen, zeigen sie häufig ein ähnliches Verhalten wie Abhängige selbst. Alles wird getan, um die Kranken vom Trinken abzuhalten oder um die Konsequenzen ihres Trinkens zu vertuschen“, erklärt die Al-Anon-Mitarbeiterin, die dieses Problem der
Co-Abhängigkeit aus eigener Erfahrung kennt. Dabei ging ihr wie vielen anderen Betroffenen bald die Kraft aus, sie vergaß ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse, ihr eigenes Leben.
Breites Therapieangebot
Das vergessen auch die direkt Betroffenen. Arbeit, Familie, Freunde, Interessen werden vernachlässigtoder verdrängt, alles dreht sich nur mehr darum, wann und wie man wieder an Alkohol gelangen kann. Man kann sich unschwer vorstellen, wie schwierig es ist, über viele Jahre aufgebaute Muster zu durchbrechen. Tatsächlich dauern erfolgreiche Therapien oft Jahre und sind nicht selten von Rückfällen begleitet. Auch Erwin S. hat diese Erfahrung gemacht – und daraus die Konsequenzen gezogen: „Ich hatte einen Rückfall, doch seither trinke ich fix keinen Tropfen mehr und benutze nicht einmal Rasierwasser, weil der darin enthaltene Alkohol über die Haut auch in den Körper gelangt.“
Für viele Betroffene ist es zunächst sehr schwer vorstellbar, nie wieder im Leben zu trinken. Das wird in modernen Therapiekonzepten berücksichtigt, indem man diesen Menschen Programme des kontrollierten Trinkens anbietet. Korbel erläutert dazu: „Das kontrollierte Trinken ist nicht als Alternative zur Abstinenz oder zum stationären Aufenthalt zu sehen, sondern ist aus meiner Sicht vor allem für jene da, die noch nicht bereit für den stationären Prozess sind. Und: Wir wissen aus Langzeituntersuchungen, dass über diesen Weg viele in die Abstinenz kommen.“
Der stationäre Entwöhnungsaufenthalt im Landesklinikum Mauer dauert übrigens sechs Wochen, in denen Betroffene einen begleiteten Entzug machen und danach ärztlich, pflegerisch, psychotherapeutisch und sozialarbeiterisch betreut werden. Die Experten von Mauer arbeiten eng mit den niederösterreichischen Suchtberatungsstellen, die es in jedem Bezirk gibt, zusammen, und an die man sich vor und nach dem stationären Aufenthalt wenden kann – und soll. „Alkoholabhängigkeit braucht eine Betreuung, die über das stationäre Angebot hinausgeht, und wir empfehlen immer, nachher eine Therapiegruppe zu besuchen“, sagt Korbel. Wie wichtig das und Selbsthilfe in diesem Prozess ist, weiß auch Erwin S.: „Es geht darum zu lernen, Eigenverantwortung – wieder – zu übernehmen, nicht die anderen oder die Umstände als schuldig zu erklären. Das ist ein Prozess, bei dem Therapeuten oder auch andere Betroffene wie Wegweiser helfen können.“
Sorgsamer Umgang
Einen sehr sorgsamen Umgang mit Alkohol empfehlen übrigens Experten wie Betroffene allen. Die sogenannte Harmlosigkeitsgrenze liegt bei Männern bis 24 Gramm reiner Alkohol pro Tag, bei Frauen bis 16 Gramm, vereinfacht circa 20 Gramm Alkohol, das entspricht in etwa einem halben Liter Bier oder einem Viertel Wein. Und: „Immer wieder trinkfreie Tage einzulegen ist jedenfalls empfehlenswert“, sagt Korbel. Aber: „Wenn man nicht jeden Tag Alkohol trinkt, heißt das noch lange nicht, dass man nicht abhängig werden kann.“
Fragt sich also noch, was vor der Falle, Alkohol missbräuchlich zu verwenden, schützt. Aufklärung und frühere Screenings seien enorm wichtig, sagen die Experten, denn es herrsche viel Unwissen und Tabu bei diesem Thema. Ein guter Jugendschutz mit strengen Gesetzen sei ebenso angebracht wie breite Therapieangebote und gezielte Prävention bei Gefährdeten. Und nicht zuletzt geht es um ein gutes, gesundes und erfülltes Leben, denn dies schützt im Sinne der Resilienz am besten davor, dann zum Alkohol zu greifen, wenn man es nicht tun sollte.
* Name von der Redaktion geändert.
Landesklinikum Mauer
Hausmeninger Straße 221 3362 Mauer
Tel.: 07475/9004-0
www.mauer.lknoe.at
Genussvoller Umgang mit Alkohol
Dr. Ursula Hörhan, Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention NÖ und Suchtkoordinatorin in Niederösterreich
Sucht wird heute als Krankheit definiert. Ist dieses Wissen schon in den Köpfen der Menschen verankert?
Die Mehrzahl der Menschen weiß, dass Sucht eine Krankheit ist und dass Betroffene Hilfe benötigen. Wie man mit diesem Wissen umgeht, hängt allerdings stark von der persönlichen Einstellung zu Alkohol, Nikotin oder abhängig machenden Verhaltensweisen wie etwa Spielsucht ab. Außerdem reagieren Menschen, die Betroffene kennen, sensibler als andere, die keinen persönlichen Bezug haben, was bei letzteren oft zu den typischen Aussagen wie „Selber schuld“ oder „Er oder sie soll sich halt zusammenreißen“ führt.
Sucht ist generell gesehen ein Problem, das viele Menschen betrifft. Was kann die Suchtprävention konkret leisten?
Es geht um Maßnahmen der Vorbeugung, um Angebote in der Suchthilfe und um Unterstützung in der Re-Integration. In der Suchtprävention wollen wir, was Alkohol betrifft, Wege zum genussvollen Umgang aufzeigen, was der Großteil der Bevölkerung ohnehin tut. Es gibt aber zehn Prozent mit problematischem Konsumverhalten, und fünf Prozent sind abhängig. In Niederösterreich stehen viele ambulante und stationäre Einrichtungen zur Verfügung, die beraten, unterstützen und gemeinsame Lösungen suchen, damit diese Personen zu einem unproblematischen Konsum zurückfinden. Manchmal ist aber Abstinenz der einzige Ausweg. Wichtig ist auch, Hilfe nicht erst in Anspruch zu nehmen, wenn Feuer am Dach und die Person schon abhängig ist. Das Umfeld sieht die Problematik in der Regel früher als der Betroffene und kann hier unterstützend eingreifen.
Was bringt einen zum „richtigen“ Konsumverhalten bezüglich Alkohol?
Die Anforderungen des Alltags lassen sich nicht durch strikte Abstinenzhaltung gegenüber allem, was persönliche Freude bereitet, bewältigen. Sie lassen sich jedoch auch nicht bewältigen, indem man seinen Neigungen bedenkenlos nachgibt. Wenn wir aber fähig sind, Genuss und auch den Rausch bewusst zu erleben, ohne uns in ein Abhängigkeitsverhältnis zu begeben, haben wir die besten Voraussetzungen für die Bewältigung unserer Aufgaben. Wir Präventionsfachleute wollen den Menschen die Werkzeuge in die Hand geben, die sie befähigen zu lernen, mit der Substanz und ihrer Wirkung vernünftig umzugehen.
Welche Werkzeuge sind das?
Die WHO hat zehn sogenannte „Life Skills“ erfasst, die einer Person Lebenskompetenz verleihen. Zentral ist die Selbstwahrnehmung, also die Fähigkeit sich selbst zu erkennen und zu mögen. Empathie, Kritikfähigkeit, Kreativität und
Kommunikationsfähigkeit sind weitere Eigenschaften genauso wie die Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten, durchdachte Entscheidungen zu treffen und erfolgreich Probleme zu lösen. Nicht zuletzt geht es auch darum, Gefühle und Stress zu bewältigen. Wir wissen: Menschen, die über viele dieser Life Skills verfügen, sind deutlich weniger suchtgefährdet.
Welche Bedingungen braucht es, um diese Life Skills zu entwickeln?
Wir brauchen Versorgungsstrukturen im kommunalen Bereich, einem Netzwerk gleich, das einen trägt und in dem Sorge getragen wird, gerade dann, wenn es einem nicht so gut geht – um wieder Kraft zu tanken, ohne Gefahr zu laufen, aus dem sozialen Netz zu fallen. Wir brauchen Orte und Beziehungen, wo erfahrungsgeleitet Lernen ermöglicht und auch das Scheitern begleitet wird. Dies würde nicht nur suchtpräventiv, sondern auch präventiv für andere Bereiche wie Gewalt oder Krankheit wirken.
Wie sieht die ideale, umfassende Suchtprävention aus?
Diese setzt nicht nur bei der Person an, sondern verändert auch Strukturen, in denen Menschen leben, lieben und arbeiten. Eine umfassende Suchtprävention reicht weit in die Politik hinein und kann dann gelingen, wenn alle Maßnahmen aufeinander abgestimmt sind und sich ergänzen. Das reicht von der Verhältnisprävention (z. B. Gesetze) über Unterstützungsangebote in der Verhaltensprävention (z. B. Workshops) bis zur Gesundheitsförderung und Prävention. Je näher wir diesem Ideal kommen, desto größer sind unsere Chancen auf eine gesunde Entwicklung.
Fachstelle für NÖ Suchtprävention
Informationen rund um das Thema Sucht, Beratung und Therapie (auch für Angehörige) in Niederösterreich finden Sie bei der Fachstelle für Suchtprävention NÖ, Brunngasse 8, St. Pölten, Tel.: 02742/31440, infosuchtpraevention-noe.at, www.suchtpraevention-noe.at
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