Miteinander mit Grenzen
In einer Gemeinschaft ist vor allem eines wichtig: seine eigenen Grenzen deutlich zu spüren und trotzdem gemeinsam ans Ziel zu kommen. In St. Leonhard am Forst stand dieses Thema im Mittelpunkt der »Bewegten Klasse«.

Beim Überqueren der Slackline verlässt sich die Schülerin auf ihre Kolleginnen und Kollegen, deren Ausdauer und Zusammenhalt gefragt sind. FOTO: Philipp Monihart
Die vorgestellten Spiele eignen sich für kleinere und größere Gruppen verschiedener Altersstufen.
Wie nahe darf mir jemand kommen? Wann ist es genug und wo ist meine persönliche Grenze? Wann ist es wichtig, sich selbst zurückzunehmen, um gemeinsam etwas zu erreichen? Grenzen und Zusammenhalt schließen einander nicht aus, im Gegenteil – sie sorgen dafür, dass man trotz Zusammengehörigkeit auch die eigenen Wünsche und Bedürfnisse wahrnimmt. Gerade Kinder spüren ab einem gewissen Alter Grenzen, die die Eltern setzen und die sie gerne überschreiten wollen. Erziehung bekam in den vergangenen Jahren einen anderen Wert, die Rolle der Kinder, Lehrkräfte und Eltern veränderte sich. Doch auf eines sollte man in jungen Jahren nicht vergessen: dass es ein „Gemeinsam“ gibt.
Die Initiative »Tut gut!« sorgt mit dem Projekt »Bewegte Klasse« seit vielen Jahren dafür, dass Bewegung wieder mehr Einzug in Klassenräume hält. Neben klassischem Sich-Bewegen steht auch das Bewegt-Sein im emotionalen Sinn im Fokus der geschulten Pädagoginnen und Pädagogen – das Erspüren der eigenen Grenzen und das
Rücksicht-Nehmen. In St. Leonhard am Forst besuchte »Bewegte Klasse«-Betreuer Mag. Ralph Wakolbinger die ersten Klassen der Neuen Mittelschule, um sich gemeinsam mit den Kindern
spielerisch und bewegt mit dem Thema Grenzen auseinanderzusetzen. Die Schülerinnen und Schüler der Mittelschule starteten mit Schulanfang bunt zusammengewürfelt in ein neues
Abenteuer – die ersten Wochen nutzten sie dazu, einander kennenzulernen und die eigene Rolle in der Klassengemeinschaft zu finden. Der erfahrene Pädagoge wanderte mit ihnen in den St. Leonharder Schlosspark, wo abwechslungsreiche und spannende Übungen auf sie warteten.
Miteinander Brücken bauen
Am Beginn steht eine Aufgabe, die den Kindern vor allem das Einlassen auf den anderen abverlangt: mit Teppichfliesen einen „Fluss“ zu überqueren. Gemeinsam überlegen sie, wie sie es schaffen können, die Brücke weiterzubauen. Und müssen sich damit auseinandersetzen, dass der Platz auf den Fliesen begrenzt ist. Die Kinder fragen sich dann: Wie nahe darf mir jemand kommen? Mit wem passt es oder passt es nicht so gut?
Doch nicht nur die eigenen Grenzen stehen im Fokus, sondern auch die Grenzen der anderen – nämlich dann, wenn es darum geht, diese zu überschreiten. „Es ist ganz wichtig, Rücksicht auf den anderen zu nehmen und geduldig zu sein“, sagt Wakolbinger. In St. Leonhard starten die Kinder zaghaft – je länger sie jedoch an der Brücke werken, desto stärker werden sie als Gruppe und arbeiten sich erfolgreich bis an das Ziel.
Die Teppichfliesen stehen auch im Mittelpunkt der nächsten Übung. Die Kinder nehmen auf einzelnen Stücken Platz, von denen der Pädagoge nach und nach eine Fliese entfernt. Nun müssen sie den verbleibenden Platz gemeinsam organisieren. Und wenn der Platz immer weniger wird, stehen natürlich wieder der Körperkontakt und die damit verbundenen Grenzen im Fokus. „Um Nähe zuzulassen, braucht es Vertrauen“, erklärt Wakolbinger.
Geduld üben
Um auf das Gegenüber Rücksicht zu nehmen und die eigenen Impulse auch einmal hintanzustellen, benötigt es vor allem auch eines: Regeln. Im Spiel mit Wäschekluppen stellt der Pädagoge zunächst Regeln auf, die die Kinder nicht brechen dürfen. Jeweils ein Kind nimmt in der Mitte des Kreises mit der rechten Hand drei Wäschekluppen – wenn dabei jemand spricht oder die Kluppen fallen lässt, kommen alle Wäschekluppen zurück in den Korb. Auf diese spielerische Art und Weise lernen die Kinder, sich selbst zu kontrollieren und gleichzeitig trotz Frustration tolerant zu reagieren: „Die Kinder sollen lernen, auf etwas zu warten und sich unterzuordnen. Sei es, dass man am Tisch mit dem Essen auf die anderen wartet oder in der Klasse nicht einfach hinausruft – Geduld zu haben ist ein wesentlicher Punkt in der Erziehung, der umgekehrt natürlich auch für die Erziehenden gilt.“
Nach dem disziplinierten Spiel steht ein Spiel der Kategorie „Raufen und Rangeln“ auf dem Programm – natürlich dennoch mit Regeln verbunden. Mit Kluppen an der eigenen Kleidung befestigt, gilt es, die Kluppen von den anderen zu stehlen und so wiederum die eigenen und fremden Grenzen auszutesten. Denn vor allem im Spiel wird vieles ausprobiert, was später dann von großer Bedeutung ist. „Die Kinder lernen in diesem Spiel viel über die eigenen Grenzen. Angreifen wird in ein, zwei Jahren bei diesen Schülern vor allem geschlechterspezifisch ein großes Thema sein, denn in der Pubertät machen sich die Kinder mehr und mehr Gedanken darüber, wie nahe ihnen jemand kommen darf“, erklärt der Experte.
Gemeinsam etwas erreichen
Die Gemeinschaft der Klasse steht beim nächsten Spiel im Mittelpunkt. Die Kinder müssen aus vielen Schnüren und Seilen ein großes Spinnennetz zwischen den Bäumen bauen. Sie meistern die kniffelige Aufgabe mit Bravour und tasten sich im nächsten Schritt langsam über oder unter das Spinnennetz hindurch – ohne die Seile zu berühren. Nach dem Austoben steht die nächste Herausforderung bevor. Die Klasse bildet Paare; einem Kind werden die Augen verbunden und das andere Kind hat die Aufgabe, seinen Partner sicher durch das Labyrinth an Spinnenfäden zu führen. Für das „blinde“ Kind bedeutet das, mutig zu sein und dem anderen zu vertrauen – das führende Kind hat die Aufgabe, sich in seinen Partner hineinzuversetzen und die eingeschränkte Wahrnehmung zu erahnen.
Ähnlich geht es beim Überqueren der Slackline in der nächsten Übung zu – denn nur wer sich auf den anderen einlässt und aufmerksam beobachtet, schafft ein Miteinander. Doch auch das Durchhaltevermögen der Kinder steht im Vordergrund, denn das Halten der Slackline fordert die Ausdauer der Schüler. Sich als Gruppe gemeinsam zu organisieren und zusammenzuhalten, war in Zeiten von unbeschwertem Spielen mit den Nachbarskindern selbstverständlich – heute fehlt vielen Kindern diese Erfahrung, weiß der Experte: „Früher hat man diese Kompetenzen in der Nachbarschaft automatisch erworben, mussten sich Kinder gemeinsam organisieren und sich in die Gruppe eingliedern. Heute gibt es einfach andere Instanzen und daher ist es wichtig, dass Kinder dennoch lernen, sich etwas sagen zu lassen, aber auch die eigenen Wünsche zu formulieren.“
Korridor der Komplimente
Die Abschlussübung sorgt zunächst für Skepsis auf den Gesichtern: Beim „Korridor der Komplimente“ stellen sich die Kinder in zwei Reihen gegenüber auf. Eine Person durchwandert diesen Korridor und die Kinder flüstern ihrem Mitschüler Eigenschaften ins Ohr, die ihnen an ihm gefallen. Die anfängliche Scheu der Kinder verwandelt sich zusehends in Neugier – und ihr Mut wird mit vielen ernst gemeinten Komplimenten belohnt, die ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Nicht nur zwischen Schülern und Lehrern, sondern auch zwischen Eltern und Kindern sind Komplimente etwas, das leicht im alltäglichen Leben Platz findet und Kinder wie Erwachsene bestärkt. Ein gemeinsames Pantomimespiel, bei dem unsichtbare Geschenke weitergegeben werden, bringt den Nachmittag zum Abschluss – und siehe da: Wortlos überreichen sich die Kinder ihre individuellen Präsente und kommunizieren miteinander. Die Klasse ist sich einig: Der Nachmittag im Schlosspark hat ihnen sehr gut gefallen – und die Klassengemeinschaft ist nun besser. Die Kinder spüren ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen in den Übungen und lernen vor allem eins: wie viel Spaß es machen kann, gemeinsam etwas zu schaffen.
Mag. Ralph Wakolbinger ist Pädagoge, Referent an Pädagogischen Hochschulen und Lehrbeauftragter für Psychomotorik (Uni Wien).