Erste Hilfe für die Seele
1.730 Einsatzstunden bei 425 Ereignissen im Jahr 2010 – das AKUTteam Niederösterreich ist immer bereit zu helfen, wenn schreckliche Dinge passieren und die Betroffenen überfordert sind.
Ob Hochwasser oder Gasexplosion, Unfälle mit Schwerverletzten, Gewalttaten oder plötzliche Todesfälle – jedes dieser Ereignisse ist für die Betroffenen und deren Angehörige eine gewaltige und akut auftretende Belastung; eine Situation, auf die man nie vorbereitet ist. Hier gilt es, rasch und unbürokratisch zu helfen – über die medizinische Versorgung hinaus: „Da ist jemand völlig unbelastet in seinem Leben und plötzlich passiert etwas, das ihn aus der Bahn zu werfen droht. Hier helfen wir, damit so ein Ereignis nicht zu einem eingefrorenem Trauma wird, das ihn sein weiteres Leben belastet“, betont Dr. Heidi Niederer die Wichtigkeit der schnellen Hilfe in der ersten Schockphase. Heidi Niederer, Psychologin und Psychotherapeutin, ist Mitarbeiterin der ersten Stunde beim AKUTteam Niederösterreich: Vor zehn Jahren startete die psychosoziale Betreuung in Niederösterreich. Rund um die Uhr ist seither ein mittlerweile 50-köpfiges Team aus Sozialarbeitern, Klinische Psychologen, Psychotherapeuten und Ärzten mit Psychotherapieausbildung einsatzbereit. GESUND+LEBEN trifft die Mitarbeiter des AKUTteams bei einer Schulung, um mehr über die belastende und so wertvolle Krisen-Arbeit zu erfahren.
Rasch vor Ort
In fünf Regionen – Waldviertel, Weinviertel, Mostviertel, Industrieviertel und NÖ Mitte – ist Niederösterreich unterteilt, um die Anfahrtswege der Seelenhelfer zu minimieren. Alarmiert werden die Teams in erster Linie über den Notruf NÖ 144, aber auch die Einsatzkräfte von Rettung, Polizei und Feuerwehr oder die Landeskliniken stellen den Kontakt her. Diese Notrufe erreichen die Sozialarbeiter des AKUTteams im Journaldienst, rund um die Uhr, an allen Tagen des Jahres. Sie leiten den Einsatz dann an die „Psy-Kraft“ (Psychologe, Psychotherapeut oder Arzt mit Psychotherapieausbildung) der jeweiligen Region weiter, wo immer ein Mitarbeiter pro Region Bereitschaft hat. „Wir sind die ersten Ansprechpartner, klären ab, was gebraucht wird und unterstützen auch bei der Planung der nächsten Schritte“, erklärt die diplomierte Sozialarbeiterin Beatrix Korherr ihre Arbeit. Die Psy-Kraft fährt dann direkt zum Akutereignis. Was sie wirklich erwartet, wie es dort ist und wer der betroffene Mensch ist – auf diese Fragen gibt es erst direkt am Unglücksort eine Antwort. Das sind ganz andere Herausforderungen als die Arbeit in einer Psychologen-Praxis, wo die Räume und die Personen klar definiert sind, wo der Therapeut seinen Tagesplan ziemlich genau kennt, erklärt die Psychotherapeutin Marianne Jungwirth: „Hier ist man plötzlich in einer gänzlich anderen Welt. Aber man gewöhnt sich daran und ist auf alles gefasst. Eine Kleinigkeit beachte ich immer – ich ziehe mich sicherheitshalber wärmer an!“, erzählt sie lachend.
Helfen in kleinen Schritten
Offenheit, Fröhlichkeit und Optimismus strahlen hier alle Mitarbeiter aus. Kein „Grau in Grau“-Sehen, keine Weltuntergangsstimmung und keine traurigen Gesichter. Für den Außenstehenden schwer nachvollziehbar, wie man angesichts solcher Erlebnisse sein inneres Gleichgewicht halten kann, wie man damit umgeht, dem Schrecklichen Tag für Tag zu begegnen: Da ist ein Bauer, der mit dem Traktor-Hinterrad sein Enkelkind überrollt hat. Hier sitzen Kinder, deren Mutter Selbstmord begangen hat.
Wie lebt man mit solch Unfassbarem? „Wir können in kleinen Schritten helfen, wenn etwas Furchtbares passiert ist. Wir können es nicht ungeschehen machen, aber wir können den Betroffenen beistehen, einfach da sein. Das hat viel Positives!“, macht Psychologin Niederer klar, wie ihr Helferinnen-Alltag aussieht. Aber auch das Team-Sein gibt den Mitarbeitern viel Kraft, sind doch die meisten als Therapeuten alleine in der Praxis tätig, arbeiten hier aber mit Kollegen zusammen. Die Möglichkeit zum Austausch untereinander schätzen die Mitarbeiter ebenso wie die Fortbildungen, wo immer wieder neue Themenbereiche aufgearbeitet werden. Eine Fortbildung in der Pathologie diente etwa zur Unterstützung bei Identifikationen und Verabschiedungen.
Beistehen in schweren Stunden
„Sehr betroffen machen immer wieder die Reaktionen bei der Überbringung von Todesnachrichten“, erzählt Mag. Andreas Rothner, Psychotherapeut und seit zehn Jahren im Team. „Gerade in diesen Stunden ist Unterstützung so wichtig.“ Angesichts solcher Ereignisse relativiere sich vieles im Leben und mache dem Helfer selbst den Wert des einzelnen Augenblicks noch bewusster. Im Jahr 2010 wurde das AKUTteam Niederösterreich 425 Mal alarmiert und leistete 1.730 Stunden Akuthilfe, „das sind rund vier Stunden Einsatzzeit pro Ereignis“, nennt die Leiterin des AKUTteams Niederösterreich, Mag. Dr. Veronika Gmeiner, konkrete Zahlen. „Bei rund einem Viertel wurden sechs oder nach Absprache mit der Leitung mehr Stunden benötigt.“ Grundsätzlich ist die Betreuung für bis zu sechs Stunden für jeden Menschen in Niederösterreich kostenlos. Die konkrete Hilfe kann sehr unterschiedlich aussehen. Steht einmal die Bewältigung des Traumas an sich im Mittelpunkt, so ist ein anderes Mal die Hilfe zur Selbsthilfe gefragt. Auch das Stärken vorhandener Kräfte und Ressourcen, oft in Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld, der Familie, den Freunden, können Themen der Hilfe sein, oder der Wiedereintritt ins „normale Leben“ oder die rein organisatorische Planung der nächsten Schritte. Jedes Unglück, jeder Betroffene und seine Art, auf das Geschehen zu reagieren, sind einzigartig und bedürfen einer individuellen Betreuung. Einzigartig sind auch die Menschen, die hier 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr bereit sind, anderen in den vielleicht schwersten Stunden ihres Lebens beizustehen. Stille Helden, die das Wesentliche tun.
AKUTteam Niederösterreich
Gegründet wurde das AKUTteam Niederösterreich im Jahr 2001 auf Initiative von Landeshauptmann Dr. Erwin Pröll und Landeshauptmann-Stellvertreterin Liese Prokop als Projekt der NÖ Landesakademie. Ein mittlerweile 50-köpfiges Team aus Sozialarbeitern, Klinische Psychologen, Psychotherapeuten und Ärzten mit Psychotherapieausbildung ist rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr einsatzbereit. Alarmiert werden die regionalen Teams in erster Linie über den Notruf NÖ 144, aber auch die Einsatzkräfte von Rettung, Polizei und Feuerwehr oder die Landeskliniken stellen den Kontakt her.