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Medizin, die bewegt

Ob Skoliose, Unfallfolge oder Schmerzsyndrom: Die Physikalische Medizin ist spezialisiert auf die Diagnose und Therapie von Erkrankungen des Bewegungsapparats.


Prim. Assoc. Prof. Dr. Gerda Deistler-Russ untersucht die Wirbelsäule eines Patienten. Verdacht auf Blockierung eines Lendenwirbels. FOTOS: Nadja meister, Robert Herbst/Point of View

Rainer S. schaut skeptisch, was mit seinem Arm passiert. Eine Ärztin legt eine verkabelte Manschette um seinen Ellbogen, eine zweite ums Handgelenk und sie umwickelt die Finger mit kleinen Bändern. Die Kabel daran führen schnurstracks in eine Maschine mit einem großen Bildschirm. Ein Tastendruck der Ärztin – und die Finger des Patienten entwickeln ein Eigenleben: Fast parallel mit den Kurvenausschlägen auf dem Bildschirm zucken sie, ohne dass er es wollen würde. Was wirkt wie Magie, ist einfach nur Strom: Durch die Manschette am Ellbogen werden die Nervenenden mit leichten Stromstößen stimuliert. Sekundenbruchteile später sind diese Reize in den Fingern angekommen und sorgen dort für ein Zucken.
Seit geraumer Zeit plagen Rainer S. schmerzhafte Gefühlsstörungen in den Fingern, gleichzeitig fühlen sich die Finger irgendwie taub an. In der Ambulanz des Instituts für Physikalische Medizin und Rehabilitation am Universitätsklinikum St. Pölten wird er nun von der Leiterin Prim. Assoc. Prof. Dr. Gerda Deistler-Russ gründlich untersucht. „Die Symptome deuten auf verschiedene Krankheitsbilder hin“, sagt sie und macht sich auf Spuren­suche. Klinische Tests an der Halswirbelsäule, dem Handgelenk, Check der mitgebrachten Befunde  und die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit bringen nun Klarheit. „Sie leiden an einem Karpaltunnelsyndrom, einer Einengung des Mittelhandnervs“, sagt die Physikalistin, wie die Fachärzte für Physikalische Medizin auch genannt werden. Ursache ist hier eine frühere Verletzung und wochenlange Überbeanspruchung des Handgelenks. Als Therapie verordnet die Ärztin eine Nachtlagerschiene zur Fixierung des Handgelenks in Mittelstellung und Dehnübungen für die Unterarmmuskulatur: „Damit wird es Ihnen bald besser gehen.“

Diagnose & Therapie

Physikalisten wie Deistler-Russ sind spezialisiert auf die Diagnose und Therapie von Erkrankungen des Bewegungsapparats. Sie helfen bei Schmerzen, Bewegungseinschränkungen nach Operationen, Unfällen, Sportverletzungen, aber auch bei Lähmungen  nach einem Schlaganfall oder nach Nervenverletzungen. Ein wichtiges Diagnose-Instrument sind – neben technischen Hilfsmitteln wie beispielsweise Röntgen – nach wie vor die Hände, sagt die Ärztin: „Für eine ordentliche Diagnose muss ich den Patienten nebst der Anamnese auch berühren, um beispielsweise zu fühlen, welche Gewebsstrukturen betroffen sind. Oft sind unsere Patienten verwundert, dass sie zusätzlich zur ganzen Hightech-Medizin auch angegriffen werden.“
Der Facharzt für Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation erkennt die Ursachen, erstellt den optimal abgestimmten Therapieplan, kontrolliert den Therapiefortschritt oder therapiert auch selbst. Im Klinikum ist die Frührehabilitation ein großer Aufgabenbereich. Im Zentrum der Bemühungen steht immer die Lebensqualität der Patienten. Erfolgserlebnisse gibt es viele, freut sich die Primaria, denn helfen könne man vielen Patienten: „Bei Bewegungseinschränkung oder Schmerzen in den Gelenken kann auch ein kleiner Schritt ein großes Mehr an Lebensqualität bedeuten.“

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

In diesem Zusammenhang verweist die erfahrene Ärztin auf die Wichtigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit: Im Physikalischen Institut im Uniklinikum St. Pölten kümmern sich neben acht Ärzten auch über dreißig Physiotherapeuten, drei Ergotherapeuten, vier Masseure und zehn medizinisch-technische Fachkräfte um die Genesung der Patienten. „Fächerübergreifend und gemeinsam mit anderen Fachärzten und Therapeuten lassen sich die besten Behandlungsergebnisse erzielen. Als Physikalist sollte man generell ein Teamplayer sein.“  Neben Krankenhäusern praktizieren Physikalische Ärzte auch in Facharztordinationen, Instituten, Rehabilitationszentren und Kassenordinationen. Die Patienten kommen aus allen Alters­­­gruppen: vom Kleinkind mit Entwicklungsstörungen bis hin zu hochbetagten geriatrischen Patienten. Ebenso vielfältig ist das Spektrum der Krankheitsbilder: Angefangen von Problemen mit der Wirbelsäule, Knie, Schulter und Hüfte bis hin zu Überlastungserscheinungen oder Beschwerden nach Operationen, etwa nach Gelenks­implantationen, unfallchirurgischen Eingriffen oder Bandscheibenoperationen. Hier gilt es, die ursprüngliche Leistungsfähigkeit wieder herzustellen. Doch bevor die eigentliche physikalische Therapie beginnen kann, müssen etwaige Schmerzzustände ausgeschaltet werden – auch hier helfen die Physikalisten.

Alte Heilmethoden

Ihren Namen hat die Physikalische Medizin, weil sie sich physikalischer Methoden bedient, erklärt Deistler-Russ: „Wir arbeiten mit verschiedenen Formen physikalischer Energie, etwa Wärme- und Kälteenergie, Bewegungs-, Licht- oder elektrischer Energie.“ Das Prinzip physikalischer Therapien ist einfach: Aktive und passive Reize werden gesetzt, auf die der Körper reagieren muss. Schmerzen, Beweglichkeit, Herz-Kreislauf, Atmung, Muskelkraft und Ausdauer werden positiv beeinflusst. Die Anfänge dieser Heilmethoden liegen Jahrtausende zurück: Schon die Germanen und Navajo-Indianer kannten den Nutzen von Thermal- und Mineralquellen, Schwitzbädern und Massagen. Auch in der westlichen Medizin haben physikalische Therapieformen eine lange Tradition. Ende des 19. Jahrhunderts schuf die Universität Wien den ersten Lehrstuhl für „Hydrotherapie“, das erste Universitätsinstitut für Physikalische Medizin wurde 1925 in Jena eröffnet.
Deistler-Russ schloss im Jahr 1988 ihre Facharzt-Ausbildung ab und leitet das Institut seit nunmehr 23 Jahren. Seither hat die Zahl der Physikalisten rapide zugenommen: „Zu meinen Anfängen haben zwei Ärztinnen und einige Therapeuten am Institut gearbeitet. Das hat sich mittlerweile vervielfacht.“ Heute gibt es österreichweit etwa 350 Spezialisten in diesem Bereich – Tendenz steigend. „Durch die höhere Lebenserwartung und den Fortschritt der Akutmedizin wird der Bedarf immer größer“, sagt die erfahrene Medizinerin.
Sie ist stolz darauf, wie sich „ihr“ Institut kontinuierlich weiterentwickelt hat – von einer kleinen Funktionseinheit zu einem ärztlich geführten Institut: „Gemeinsam mit meinem tollen Team haben wir schon viel erreicht und bewegt.“ Rund 8.500 Patienten werden jährlich stationär betreut; Menschen mit komplexen Problemen werden danach ambulant weiterbehandelt.  

In allen Facetten

Auch nach all den Jahren ist Gerda Deistler-Russ noch fasziniert von ihrem Fachbereich, da er den Menschen in allen Facetten betrachtet: „Ich finde es ungemein spannend und herausfordernd, Bewegungsabläufe zu beobachten, Schmerzen oder funktionelle Probleme von Menschen zu ertasten und oft auch mit nicht-medikamentösen Mitteln zu helfen. Für mich ist die Physikalische Medizin die Brücke von der Hightech-Medizin zum täglichen Leben.“ Als Voraussetzung für diesen Beruf nennt sie: „Man muss gern mit Menschen arbeiten und sich rasch in sie hineinversetzen können. Und Berührungsängste sollte man auch keine haben – dann ist es der schönste Beruf der Welt.“

Universitätsklinikum St. Pölten
Propst-Führer-Straße 4 3100 St. Pölten
Tel.: 02742/9004-0
www.stpoelten.lknoe.at

Physikalische Medizin & Rehabilitation

Die Physikalische Medizin ist der Zweig der wissenschaftlichen Heilkunde, der zum Ziel hat: Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten und Funktionsstörungen aller Organsysteme, insbesondere mit physikalischen Mitteln, sowie Wiederherstellung oder Besserung der Körperstrukturen, der Körperfunktionen, der Aktivität und der Partizipation unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren, Mechano-, Elektro-, Thermo- und Photodiagnostik, Mechano- und Bewegungstherapie, Ergo-, Elektro-, Thermo-, Photo- und Hydrotherapie, Inhalation sowie Balneo- und Klimatherapie, Feststellung des Rehabilitationsbedarfs, rehabilitative Diagnostik, Rehabilitationsmanagement, Interventionsplanung sowie Evaluation rehabilitativer Maßnahmen.
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit, www.bmg.gv.at

Ausbildung Physikalische Medizinerin/Mediziner 

Die Fachärzte für Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation, oder Physikalisten, wie sie auch genannt werden, sind die Spezialisten bei der Diagnose und Therapie von Erkrankungen und Behandlungen des Bewegungsapparates. Wer Physikalischer Medizinerin/Mediziner werden will, muss eine lange und profunde medizinische Ausbildung absolvieren. Seit Jänner 2015 ist die Novelle des Ärztegesetzes in Kraft, seit Juni kann die neue Ausbildung begonnen werden, die nun folgendermaßen aufgebaut ist: Nach dem Medizinstudium müssen Ärztinnen und Ärzte eine neunmonatige Basisausbildung im Krankenhaus absolvieren, um das praktische Rüstzeug für die Ausübung des Berufs zu erlernen. Im Anschluss geht es in die Sonderfach-Grundausbildung, die 36 Monate dauert. Auf die Grundausbildung folgt die Sonderfach-Schwerpunktausbildung mit 27 Monaten. In Summe dauert die Facharztausbildung mindestens 72 Monate.