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Von Kuckucksnestern und Couchtrips

Die Tradition der „Psychofilme“ und unsere Faszination dafür sind so alt wie die Filmgeschichte selbst. Doch was enthüllen diese Streifen tatsächlich, und was verbergen sie andererseits? Ein Blick hinter die Kulissen. ­


Foto: fotolia

Prim. Dr. Rainer Gross, Leiter der sozialpsychiatrischen Abteilung,
Landesklinikum Hollabrunn

Wetten, Sie glauben zu wissen, wie der Alltag in einer psychiatrischen Station oder einer psycho­therapeutischen Praxis aussieht? Kein Wunder, werden wir doch seit Beginn der Filmgeschichte mit unzähligen und vielfältigsten Bildern dieser „Szene“ beliefert ...

Drei Psychoklischees mit Tradition

Schon in der Stummfilmzeit gab es kurze Hollywoodfilmchen zu dieser Thematik, in denen unter anderem Psychiater-Klischees, die teilweise bis heute überdauern, vor einem hoch interessierten Publikum gezeigt wurden: Da gibt es den liebenswerten, etwas schrulligen und lächerlichen, doch sehr bemühten Seelendoktor, andererseits den „verrückten Wissenschaftler“, der seine Patienten ausbeutet oder ihre Krankheit böswillig erst erzeugt, und es gibt den „idealen Heiler“ mit nahezu übermenschlichen Kräften, der Garant für Hilfe und Heilung repräsentiert. „Alle drei Klischees illustrieren jeweils unterschiedliche Gefühle gegenüber geliebten, gehassten oder verlachten Autoritätsfiguren, und jedem dieser drei Klischees entspricht ein Filmgenre: Komödie, dunkler Thriller und Melodram sind hier die Stichworte“, sagt der Leiter der sozial­psychiatrischen Abteilung des Landesklinikums Holla­brunn, Prim. Dr. Rainer Gross, der jüngst zu dieser spannenden Thematik das Buch „Der
Psychotherapeut im Film“ geschrieben hat.

Alle auf die Couch

Gross ist auch davon überzeugt, dass schon die ersten „Psychodarstellungen“ in den Stummfilmen entscheidend dazu beigetragen haben, welche inneren Bilder viele Zuschauer zu diesem Thema entwickelten und welche Erwartungshaltung potenzielle Patienten prägten, noch bevor sie zum ersten Mal ein Behandlungszimmer betraten.
Übrigens: In den 1930er und 40er Jahren war es in Hollywood für Filmmenschen ebenso schick, in Psychoanalyse zu sein, wie es heute für manche etwa die Beschäftigung mit Zen-Buddhismus oder Kabbala ist.

Faszination aus der Entfernung

Doch der Siegeszug der „Psychofilme“ beschränkt sich bei weitem nicht auf diese Zeit. Woher kommt eigentlich die große Faszination für dieses Thema? „Diese Filme zeigen auch ganz starke Gefühle, vor denen wir ‚im wirklichen Leben‘ Angst haben, weil sie uns überwältigen könnten. Als kulturelles Phänomen im Kino oder auf der Bühne können wir sie fasziniert aus der Entfernung betrachten, weil sie stellvertretend für uns von anderen erlebt werden“, sagt Gross dazu, und: „Außerdem ermöglichen diese Darstellungen die Rationalisierung der großen allgemeinen Angst vor dem „Verrücktsein“: An ihre Stelle tritt durch die Filminhalte die „Angst vor den bösen Psychiatern“ oder die „Angst vor der bösen Psychiatrie“.

Duell in der Psychiatrie

Klar, dass in diesem Zusammenhang bei vielen Menschen auch ein Film im Kopf hängt, der Geschichte geschrieben und die allgemeine Meinung über „die Psychiatrie“ geprägt hat und bis heute prägt wie kein anderer, und das ist – Sie wissen es längst – „Einer flog über das Kuckucksnest“.
1975 unter der Regie von Milos Forman entstanden räumte der Streifen bei der Oscar-Verleihung alle fünf Haupt-Oscars ab und zeigt die Geschichte des Randle McMurphy – genial verkörpert von Jack Nicholson –, der aus dem Gefängnis in ein psychiatrisches Krankenhaus verlegt wird. Dort soll geklärt werden, ob sein aufsässiges, arbeitsvermeidendes Verhalten in der Strafanstalt Ausdruck seiner kriminellen Persönlichkeit oder Symptom einer psychischen Krankheit ist.
Legendär dabei und wohl für jeden Zuschauer ins Gedächtnis gebrannt: Nicholsons brillante Darstellung eines strahlenden, antisozial schillernden Working-Class-Helden; legendär weiters: seine Konfrontationen mit der Gegenspielerin, der eisig-souveränen Oberschwester in adretter weißer Uniform (Louise Fletcher); legendär ebenso McMurphys Aufstand gegen eine finstere Anpassungspsychiatrie, der Gegenschlag der Oberschwester, die anschließende „Elektroschockbestrafung“ des Rebellen, die ihn als Wrack enden lässt, und schließlich der „Gnadenakt“ eines Mitpatienten, des Indianers, der McMurphy erstickt und anschließend selbst aus der Anstalt ausbricht.
„Dieser Film ist eine Metapher, die jeder nachvollziehen kann“, erklärt Rainer Gross die enorme Wirkung dieses Streifens. „Das Schema ist das des Gefängnisfilms und des Aufstands des Individuums gegen die totale Institution, und mit dem von Jack Nicholson verkörperten, großartig strahlenden und ungeheuer vitalen Helden, der gewissermaßen auch ein neues Männerbild repräsentierte, kann sich jeder identifizieren.“

Vom ewigen Stadtneurotiker

Mit den nachhaltigen Bildern von „Einer flog über das Kuckucksnest“ sind freilich auch bis heute Vorurteile über „die böse Psychiatrie“ oder die Disziplinierung von psychiatrischen Patienten mit Elektroschock und Co zementiert.
Ganz anders die Wirkung der vielleicht ebenso massenwirksamen, aber völlig anders angelegten Filme von Woody Allen, der uns bis heute mit Geschichten und Bildern vom legendären, tollpatschigen „Stadtneurotiker“ versorgt. Was Allen beständig zeigt, ist sein eigenes Scheitern, mit dem er allerdings auch immer wieder Erfolg einfährt – und das vor allem bei den Frauen. „Woody Allen zeigt ein klassisches Gegenprogramm: Man kann es auch „bringen“, wenn man eben nicht Humphrey Bogart oder Clint Eastwood ist. Allen gewinnt in seinen diversen Rollen immer wieder gerade durch seine demonstrierte Nicht-Männlichkeit – eine beruhigende Botschaft für das männliche Kinopublikum und eine bezaubernde Ansage für die Zuschauerinnen, die fasziniert vor dem Bild des intellektuell-sensiblen „neuen Mannes“ stehen“, interpretiert Rainer Gross.
Tatsächlich berichtete übrigens schon 1981 die Psychologin Dee Burton von über hundert untersuchten Träumen amerikanischer Hausfrauen, in denen Woody Allen als sensibler und humorvoller Liebhaber deren sexuelle Wunschvorstellung verkörpert.

Aufgeblasenes Psychogeschwätz

Weit entfernt vom differenzierenden Charakter der Woody-Allen-Filme sind allerdings die heute in unzähligen Soaps, Filmserien oder auch Talkshows gezeigten Darstellungen von „Psycho-Experten“ aller Art. Experte Gross lässt kaum ein gutes Haar an diesem dem Publikum fast täglich zugemuteten „Schrott“: „In tausenden Folgen von Soap-Operas und später auch Talkshows gab und gibt es kein Entrinnen vor der völlig trivialisierten und standardisierten Verwendung von Fachausdrücken der Psychologensprache – US-englisch „Psycho-Babble“ genannt. Und dementsprechend schwer fiel es auch den Drehbuchautoren, überzeugende Texte für Therapeuten auf der Leinwand jenseits von Psychogeschwätz und aufgeblasenem Expertenjargon anzubieten.“

Genie und Wahnsinn

Andererseits gibt es naturgemäß auch heute noch Filme, die sich um eine differenzierte Darstellung des Themas „psychische Krankheit und ihre Behandlung“ bemühen. Ein neuerer, in dieser Hinsicht sehr erfolgreicher Film ist „A beautiful Mind“ (Genie und Wahnsinn), in dem die Lebensgeschichte des Mathematikers und Nobelpreisträgers John Nash, der unter Schizophrenie litt, nachgezeichnet wird. „Dieser Film hat durch seine Botschaft, dass man trotz psychischer Krankheit Nobelpreisträger sein oder werden kann, für viele Betroffene sehr aufbauend und auch für eine breitere Öffentlichkeit antistigmatisierend gewirkt“, sagt Rainer Gross, und er meint, dass der Streifen und auch manch andere grundsätzlich in gewisser Weise einsichtsfördernd wirken können – soweit eine fiktive Geschichte das kann, denn, so der Experte: „Natürlich muss man dabei wissen, dass ein Film kaum realistisch zeigen kann, was psychische Krankheit und ihre Behandlung tatsächlich sind, aber es glaubt ja auch niemand, dass ein wirklicher Archäologe so arbeitet wie Indiana Jones.“

Was uns verborgen bleibt

Womit wir bei der Frage sind, welchen Illusionen wir beim Betrachten von Psychofilmen aufsitzen, weil sie uns ja auch so manches verbergen. Das, was wir aus dem Kino zum Beispiel gut kennen, ist die Aufdeckung eines schweren Traumas in einer einzigen, spektakulären Psychositzung. Der Patient wird von Emotionen überwältigt, erkennt mit einem Schlag den Ursprung seines Leids und ist von da an für immer geheilt. Was das mit der Wirklichkeit einer Psychotherapie zu tun hat? So ziemlich rein gar nichts, sagt der Sozialpsychiater Gross, der auch bemerkt, dass der Einsatz von Psychopharmaka im Film fast immer lediglich als „Niederspritzen“ eines ohnehin gepeinigten Patienten vorkommt. „Dass jemand ein Antidepressivum erhält, das nach
einiger Zeit eine positive Wirkung entfaltet, wird nicht gezeigt, aber das ist freilich auch schwer
darzustellen.“
Ebenso schwer darzustellen ist vermutlich die Realität einer therapeutischen Beziehung zwischen Patient und Behandler. Gross: „Reale Psychotherapie kostet Zeit, Kraft, ist oft nicht lustig und schon gar nicht glamourös. Im Kino muss es immer schnell und spektakulär abgehen; die Realität wartet allerdings selten mit Wundern auf, aber so ist das eben mit Fiktion und Wirklichkeit.“

Buchtipp:

Rainer Gross: Der Psychotherapeut im Film.
Kohlhammer 2012,
ISBN 9783170210127,
20,50 Euro

Berühmte „Psychofilme“

  • Das Kabinett des Dr. Caligari 1920
  • M – Eine Stadt sucht ihren Mörder 1931
  • Spellbound 1945
  • Die Schlangengrube 1948
  • Vertigo 1958
  • Psycho 1960
  • What’s New, Pussycat? 1965
  • Harold and Maude 1971
  • Der Exorzist 1973
  • Einer flog über das Kuckucksnest 1975
  • Das Omen 1976
  • Der Stadtneurotiker 1977
  • Dressed to kill 1980
  • Das Schweigen der Lämmer 1991
  • Mr. Jones 1993
  • Leaving Las Vegas 1995
  • Eine Couch in New York 1995
  • Besser geht’s nicht 1997
  • Good Will Hunting 1997
  • A beautiful Mind 2001