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Familienbande

„Den Dritten das Brot“ heißt der neue Roman von Schriftstellerin und GESUND&LEBEN-Redakteurin Mag. Gabriele Vasak, in dem sie die Geschichte ihrer Mutter zu Literatur verdichtet hat. Eine Mutter-Tochter-Geschichte über Krieg, Vertreibung und das Glück, trotzdem ein gutes Leben zu führen.


Brigitta und Gabriele können Dank der vielen Gespräche gut mit der Vergangenheit leben. Foto: Nadja Meister

„Die Partisanen trieben uns auf den Sportplatz von Hodschag, und schon während wir durch den Ort zogen, wurden die Häuser geplündert. Kissen und Decken flogen über unsere Köpfe, Gänse und Hühner liefen verschreckt umher und das Vieh brüllte in den Ställen.“
Brigitta Vasak-Pfister hat diese Sätze mit 13 Jahren aufgeschrieben – einen Bericht über die Flucht ihrer Mutter mit den drei Töchtern. Damals, 1949, lebte die 13-jährige Brigitta als Staatenlose in Wien, die drei Schwestern gingen hier zur Schule. Heute, mit 80, blickt die Mödlingerin auf ihr Leben zurück, das vor gut zehn Jahren durch einen Brief eine deutliche Veränderung erfahren hat: Ein Fenster in ihre so lange verdrängte Kindheit ging auf, vertraute Gegenstände wie Bilder und Porzellanfiguren, die sie 60 Jahre lang nicht gesehen hatte, gehörten plötzlich wieder zu ihrer Umgebung. Und damit tauchten auch überwältigende Bilder auf – von einer glücklichen Kindheit in einem sicheren, wohligen Elternhaus, von der Druckerei und dem geliebten Schreibwarengeschäft der Eltern, vom weiten Himmel über der Batschka, aber auch von Vertreibung und Flucht, von überwältigender Angst, von ewigem Hunger.
Geschichten von Krieg und Flucht gibt es in vielen Familien. Die aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirken sich bis heute auf unsere Gesellschaft aus – etwa durch unerklärliche Ängste, die scheinbar von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, ohne dass sich das verhindern ließe – wie bei Brigitta und ihrer Tochter Gabriele. Oder weil betroffene Menschen wieder tagtäglich an die Erlebnisse der eigenen Familie vor 70 Jahren erinnert werden, weil jetzt Menschen vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Österreich fliehen.

Auf der Flucht

Neun Jahre alt war Brigitta Vasak-Pfister, als die glückliche Kindheit in der kleinen Stadt Hodschag endete. Die wohlhabende Familie gehörte den Donauschwaben an, sogenannten Volksdeutschen, die in der Zeit Maria Theresias in der Batschka eine neue Heimat gefunden hatten: Sie hatten die weitgehend unbevölkerten Landstriche im heutigen Serbien und Ungarn urbar gemacht und sich ein gutes Leben aufgebaut. In der schönen Kleinstadt Hodschag unter der heißen Sonne Serbiens lebten die Eltern von Brigitta als Donauschwaben gemeinsam mit anderen Volksgruppen friedlich zusammen. Ab 1944 wurden zehntausende dieser Volksdeutschen vertrieben, verfolgt, gefoltert, ermordet. Brigitta musste mit ihrer Mutter und den beiden Schwestern fliehen. Die Familie hatte das knappe Zeitfenster verpasst, in dem sie hätte auswandern können. Der Vater wurde mit tausenden anderen Männern und Frauen nach Russland gebracht, drei Jahre später erfuhr die Familie von seinem Tod. Brigitta, ihre Schwestern und ihre Mutter kamen in ein Lager.
Brigitta hielt als 13-Jährige den Grauen des Lagerlebens in ihrem Rückblick fest: „Oft kamen in der Nacht Partisanen zu uns ins Zimmer, leuchteten mit der Taschenlampe jedem ins Gesicht und suchten nach versteckten Lebensmitteln. Einmal kam einer der Gefürchtetsten zu uns ins Zimmer und fand bei einer Frau ein Ei. Dies versetzte ihn so in Wut, dass er sie ohrfeigte und mit seinen Stiefeln so in den Magen trat, dass sie vor Schmerz schrie. Ich war damals sehr krank und diese Aufregung hätte mich fast das Leben gekostet, denn ich hatte immense Angst, dass meiner Mutter auch so etwas passieren könnte.“
Die Mutter versuchte damals, mit den drei kleinen Mädchen aus dem Lager zu fliehen. Beim ersten Mal wurden sie aufgegriffen. Sie versuchten es noch einmal, wieder wurden sie zurück ins Lager gebracht. Für den dritten Fluchtversuch beschaffte die Mutter auf Umwegen Geld und zahlte Schlepper. Diesmal gelang die Flucht, sie kamen über Budapest nach Wien – und waren in Sicherheit.
Flucht. Schlepper. Lager. Todesangst. Vermisste. Ermordete Familienangehörige. Worte, die wir auch heute täglich hören, Bilder aus Kriegs- und Krisengebieten, an denen wir nicht vorbeikommen. Bilder und Worte, die wir nicht so leicht an uns heranlassen können. Was die Worte bedeuten – für ein Kind, für ein ganzes Leben – wer kann das ermessen?
Ein Kind spürt die Angst, die Mutter zu verlieren, wie Todesangst. Eine Angst, die der 80-Jährigen Brigitta heute noch in den Knochen sitzt. Sie fürchtet sich vor Menschen in Uniform, kann abends nicht alleine unterwegs sein, hält es nicht aus, wenn jemand hinter ihr geht, und es ist ihr auch nach über 60 Jahren in Sicherheit und Frieden unmöglich, Lebensmittel wegzuwerfen.

Reise in die Vergangenheit

Gabriele Vasak war 14, als die Mutter ihr den in ihrer Kindheit verfassten Bericht über die Flucht zeigte. Doch erst über die Jahre begriff die heute 52-jährige Journalistin und Autorin allmählich, was ihre Mutter damals erlebt hatte. 2005 fuhr die ganze Familie in die Batschka, besuchte die alte Heimat, sah, wo die Familie gelebt hatte, spürte den Ereignissen von damals nach. Die Druckerei der Eltern existierte nicht mehr, der ehemalige Reichtum der kleinen Stadt war kaum mehr zu erahnen. Trist und verwahrlost wirkte das Land. Aber es gab einen Kontakt: Brigitta Vasak-Pfisters Kindheitsfreundin Nada hatte sich gemeldet. Nach 60 Jahren will sie der Familie endlich zurückgeben, was sie vor der Flucht an Gütern übernommen, versteckt, über die Jahre sorgsam gehegt und gepflegt, bei jedem Umzug verpackt und wieder verstaut hatte: Vasen, Teppiche, Bilder, Uhren und Nippes. Erinnerungsstücke an ein wohlig-geborgenes Kinderleben in einem reichen Haushalt mit Dienstboten und fleißigen Eltern. Nada, die Kindheitsfreundin, hatte Brigitta damals geholfen, die Wertsachen in der Dunkelheit von einem Elternhaus ins andere in Sicherheit zu bringen. Sie schrieb einen Brief an die Familie, die sie über Donauschwaben-Verbände ausgeforscht hatte. Heute ist ein Drittel dieser Wertgegenstände in Brigittas Händen, die anderen zwei Drittel besitzen ihre zwei Schwestern. Wer welches Stück bekommt, entschieden die drei Unzertrennlichen per Los.
Gabriele Vasak war 42, als sie das erste Mal mit der ganzen Familie in die alte Heimat der Mutter gefahren ist. Danach hat sie die Familiengeschichte aufgeschrieben. 2015, zehn Jahre später, war sie mit der Familie nochmals in Hodschag. Danach begann sie, die Erstfassung ihres Berichts literarisch zu bearbeiten, fand einen Verlag und einen motivierenden Verleger und konzentrierte sich im neuen Text auf das Erleben einer fiktiven Mutter und ihrer ebenso fiktiven Tochter. Und schließlich reiste die GESUND&LEBEN-Redakteurin mit einer Freundin nochmals nach Serbien, diesmal ohne die Familie. Die Mutter wusste nichts davon, das Buch sollte eine Überraschung zum 80. Geburtstag werden. Gabriele führte lange Gespräche mit der Kindheitsfreundin ihrer Mutter. Nada erzählte ihr zu jedem Haus in Hodschag die Geschichten der Menschen, die dort gelebt hatten. Gabriele recherchierte die geschichtlichen Hintergründe und begriff im Laufe des Recherche- und Schreibprozesses immer deutlicher, was ihre Mutter als Kind erlebt hatte. Was es bedeutet, im Ungewissen über den Vater zu sein, was es bedeutet zu hungern, was es für ihre Mutter bedeutet hat, auf der Flucht zu sein.

Déjà-vu

Die Familienreise nach Serbien 2015 fand just an jenem Wochenende statt, als die ersten wirklich großen Schübe an Flüchtlingen aus der Gegenrichtung an der burgenländischen Grenze landeten. Brigitta fühlt sich durch die Flüchtlinge aus Syrien oft an ihre Flucht erinnert. „Ich kann mir vorstellen, was in diesen Menschen vorgeht“, sagt sie. „Wenn jemand nett zu uns war, war das so wohltuend.“ Obwohl Mutter und Töchter damals deutsch sprachen, fühlten sie sich alles andere als willkommen. Sie passten sich mit aller Kraft an, bemühten sich, die Sprache schnell umzufärben. Ein Anpassungsdruck, der sie gestresst hat, berichtet Brigitta. Ihre eigene Mutter hat in all den gemeinsamen Jahren und auch gegenüber den Enkeln nie wieder über die Erlebnisse gesprochen. Brigitta selbst braucht es noch heute wie Wasser und Brot, jeden Tag mit ihren beiden Schwestern zu telefonieren, was sie auf die schrecklichen Kindheitserlebnisse zurückführt. Und betrauert, dass sie ihre eigene entsetzliche Angst an ihre Tochter Gabriele vererbt hat. Das tägliche Telefonat mit der Tochter gehört für sie zu den Lebensnotwendigkeiten. Die enge Verbindung mit ihren nächsten Menschen erlaubt ihr, das Leben trotzdem zu meistern.

Das Buch

Die literarische Aufarbeitung der Geschichte war für Gabriele ein intensiver Prozess – von dem ihre Mutter damals nicht wusste. Ein Prozess, der Mutter und Tochter – wie im Buch – schließlich noch viel enger zu einander führte. „Es ist interessant, dass erst diese Generation in der Lage ist, sich mit der Geschichte wirklich auseinanderzusetzen“, sagt die Mutter. Als Tochter Gabriele zur vorgezogenen Geburtstagsfeier mit einer großen schweren Schachtel anrückte, ist die Mutter noch ahnungslos. Das Cover des Buches zeigt ein Foto, das Kindheitsfreundin Nada der Tochter mitgegeben hat: Donauschwaben in ihren Trachten. Ein Foto, das die Mutter nicht kannte. Brigittas Eltern dürften links oben in der Gruppe zu sehen sein. Der Kreis hat sich geschlossen.