Ein neues Leben
Am Altar des Stiftes Seitenstetten sprach Altabt Berthold Heigl stets mit tiefer, kräftiger Stimme zu den Menschen. Sein Herz aber wurde immer schwächer, bis dem Benediktiner im Jahr 2014 nur mehr ein Akt der Nächstenliebe zum Weiterleben verhalf: ein gespendetes Herz.
Hinter der Bank, die sich der besonnene Geistliche an diesem milden Frühherbstnachmittag für das Gespräch aussucht, wächst eine ganz besondere Rose: Die „Seitenstettner Rose“ gedeiht seit 2012 im historischen Stiftsgarten und wurde speziell für die damalige 900-Jahr-Feier der Gemeinde gezüchtet. Der Seitenstettner Altabt Berthold Heigl riecht an ihr. 2012 – es war auch das Jahr, in dem für den heute 70-Jährigen alles anders kommen sollte. Denn sein Herz zwang ihn, sich zurückzunehmen und sein Amt als Abt abzugeben.
Dass das Herz des Geistlichen aus dem Takt gekommen war, merkte er schon viel früher, im Jahr 1989: Bei einer Routineuntersuchung erzählte er seinem Hausarzt nebenbei, dass er beim Stiegensteigen schwer Luft bekomme und häufig müde sei. Der Mediziner schickte ihn ins Krankenhaus, dort wurde Herzmuskelschwäche diagnostiziert. Und Herzerweiterung, denn das gehe „Hand in Hand“, erzählt der ehemalige Abt nachdenklich. Das sei ein Schreck gewesen, denn es lässt sich schwer prognostizieren, wie es sich entwickelt. „Meistens ist es der Beginn einer gröberen Sache“, sagt Heigl. Der Benediktiner wurde im Welser Klinikum mit Medikamenten eingestellt, und er fragte sich: „Wie lang werde ich meinen Dienst noch ausüben können?“
„Ich war am Ende“
1984 war Berthold Heigl mit nur 38 Jahren zum geistlichen Vorstand des Stiftes gewählt worden, 1988 standen mit der Landesausstellung und zahlreichen Renovierungen viele Termine im Kalender. All das und eine übergangene Grippe werden wohl dazu beigetragen haben, erinnert sich der gebürtige Ybbsitzer, dass sein Herz schwächer wurde. Ein Mitbruder tröstete: „Er meinte: Wer weiß, wofür es gut ist. Es wird auch für etwas gut sein. Das habe ich mir zu Herzen genommen.“
In seiner Funktion als Abt nahm sich Berthold Heigl zurück, fuhr regelmäßig zu Kontrollen in ein Klinikum und kam so „ganz gut über die Runden“. Bis das Jahr 2012 kam – und mit dem Jubiläum der Gemeinde viele Feierlichkeiten auf dem Programm standen. Im Winter zuvor erkrankte Berthold an einer leichten Lungenentzündung und begab sich auf Kur. Trotzdem wurde die Luft weniger und die Müdigkeit oft übermächtig. „Es war eine schlimme Zeit, ich musste immer da sein und habe es kräftemäßig nicht mehr geschafft. War eine Stunde Zeit, habe ich mich niedergelegt. Ich war am Ende.“ Sogar den Menschen sei es schon aufgefallen: „Wie schaust denn du aus?“, hörte der Abt damals häufig. Drei freie Tage nutzte er zur Erholung in Bad
Kreuzen – sein Gesundheitszustand verschlechterte sich aber weiter, er kam dort kaum die Stiegen hinauf. Heigl konsultierte einen Kardiologen, der ihn ins Krankenhaus verwies, wo ihm ein Defibrillator eingesetzt wurde.
„Leben künstlich verlängern?“
Inzwischen war es Sommer geworden und der mittlerweile sichtlich gezeichnete Abt zog sich an den Achensee zurück. Im Herbst 2012 verschlechterte sich sein Zustand wieder und nach einem weiteren Eingriff – Heigl wurde ein Herzschrittmacher eingesetzt – entschloss er sich während einer Reha, sein Amt als Abt zurückzulegen. „Das war keine leichte Entscheidung – aber ich war damals mehr im Krankenhaus als im Dienst“, erinnert er sich. Im Frühjahr 2013 wurde sein Nachfolger gewählt, im Herbst begab sich Berthold Heigl wieder auf Kur, diesmal in eine spezielle Einrichtung für Menschen mit Herzschwäche. Und dort brachte ein Arzt das erste Mal zur Sprache, was Berthold Heigls Leben verändern würde: die Transplantation eines neuen Herzens. „Ich solle mich damit vertraut machen und nicht mehr zu lange warten“, erinnert er sich. Dann schickte man ihm Menschen, die mit einem neuen Herzen leben. Ursprünglich wäre es für ihn nicht in Frage gekommen: „Ich dachte mir: Wenn die Kräfte weniger werden und das Leben zu Ende ist, warum sollte man es künstlich verlängern?“ Doch seine Sicht auf Organspenden wandelte sich: „Gott bietet mir eine Chance – und ich greife nicht zu?“
Intensive Träume
Berthold Heigl war noch nicht ganz überzeugt, nutzte jede andere Chance, bekam eine Herzklappe eingesetzt, die aber das Herz aus dem Takt brachte. Anfang 2014 konnte der Geistliche nur mehr sitzend schlafen; nachdem ihm acht Liter Wasser entnommen wurden, ging es ihm wieder besser. Bei der Visite sagte der Primar: „Herr Heigl, wir haben alles für Sie getan. Das einzig Sinnvolle ist eine Transplantation.“ Wenn er einverstanden sei, komme er sofort auf die Liste, und das habe ihm die Entscheidung quasi abgenommen. Dann wartete der Geistliche auf den Anruf, hatte einen eigenen Klingelton eingestellt, sonst hätte ihn jeder Anruf erschreckt. Der Koffer stand bereit, der Mostviertler arbeitete noch seinen Schreibtisch auf, schrieb die Osterpost, hielt das Hochamt – und dann, nach zweieinhalb Monaten, war es so weit: Ein neues Herz wartete auf den schwer kranken Mann. Um 18:30 Uhr kam der Anruf, dass ein geeigneter Spender gefunden sei. Im Rettungsauto betrachtete ihn ein Sanitäter und meinte: „Sie sehen ja aus, als ob Sie in den Urlaub fahren. Ich war einfach entspannt und voller Vorfreude“, lächelt der Geistliche. Eineinhalb Stunden später war Heigl in Wien. Bis in die Morgenstunden wurde das neue kräftige Herz transplantiert; als er am Abend erwachte, fühlte er sich nicht schlecht und am nächsten Morgen frühstückte er wieder ausgiebig. Zu Mittag wurde dem frisch operierten Mann bereits ein Schnitzel serviert – der Magen war ja in Ordnung.
Neues Lebensgefühl
In seiner Brust schlug ein neues Herz – merkt man das nach dem Aufwachen? „Eine berühmte Frage“, lächelt der Geistliche. Bereits im Vorfeld habe er Mediziner befragt, ob es denn die Persönlichkeit verändern könne, das neue Herz. Doch alles, was man mit dem Herz verbindet – Gefühle zum Beispiel –, sind im Gehirn gespeichert, das Herz ist schlichtweg ein Muskel – das erklärte der Arzt dem Altabt. „Aber natürlich beschäftigt mich, dass ich ein Stück eines anderen Menschen in mir trage. Eines Menschen, dem ich mein Leben verdanke.“
Eines änderte sich ab dem Zeitpunkt der Transplantation: Berthold Heigl begann intensiv zu
träumen, anfangs waren es eher Alpträume. Dass das normal ist, erklärte ihm eine auf Herzpatienten spezialisierte Psychotherapeutin: „Dieser Eingriff ist ein Schock, der ins Unterbewusstsein verlagert und dort dann aufgearbeitet wird.“ 14 Tage blieb der Geistliche auf der Intensivstation, danach stieg er die Treppen zur hausinternen Kapelle hinunter. „Ich bekam wieder Luft und alles war gut. Es war ein neues Lebensgefühl.“ Mitte Juni kehrte Berthold Heigl nach einer weiteren Reha in sein Stift zurück, bei den Gartentagen hielt er bereits die Eröffnungsrede – und erzählte den zahlreichen Besuchern seine Geschichte. „Es hilft einem, wenn man positiv damit umgeht.“ Er selbst sei vor der Transplantation auf alles eingestellt gewesen, erzählte er den Menschen, so wie es kommt, so kommt es. Es wäre kein Malheur gewesen zu sterben, wenn man es vom Glauben her betrachtet. Dass es aber eine positive Wendung nehmen würde, dazu half dem passionierten Bergsteiger vor allem ein Psalm: „Befiel dem Herrn deinen Weg und vertraue ihm, er wird es fügen.“
Wallfahrt für „Herzgeschwister“
Sein Leben wendete sich also zum Positiven – und im Herbst erfüllte sich ein uralter Wunsch: „Die Diözese fragte an, ob ich als Seelsorger in zwei Gemeinden tätig sein wolle.“ Dafür war Berthold Heigl ursprünglich in den Orden eingetreten:
„40 Jahre habe ich darauf warten müssen. Ich bin lieber Seelsorger als Abt. Als Abt ist man für alles zuständig, das ist kein dankbares Geschäft.“ Bald nach seinem Start als Seelsorger versammelte er in Seitenstetten mehr als 200 Menschen, die mit fremden Organen leben, zu einer Wallfahrt. Heigl hielt die Festmesse für seine „Herzgeschwister“, wie er sie nennt; das Treffen wurde mit Kameras begleitet, daraus entstand der berührende Film „Das geschenkte Leben“. Der Film helfe ihm heute bei Vorträgen, zu denen er seit seiner Transplantation immer wieder eingeladen wird.
Die Kraft, die Farbe im Gesicht und die Luft zum Atmen – all das ist zurückgekehrt mit dem neuen Herzen. Für den 70-Jährigen sei das Spenden von Organen eine der höchsten Taten der Nächstenliebe. Und seinem „Herzbruder“, dem unbekannten Spender, dankt Berthold jeden Tag auf dem Weg zum Pfarrgebet. „Mein Anliegen ist es, den Menschen eine positive Einstellung zur Organspende zu vermitteln. Auch wenn ein Mensch sein Leben bei einem Unfall geben muss, kann er noch einigen Menschen das Leben retten. Das ist oft für Angehörige ein tröstlicher Gedanke.“
Vertrauen in das neue Leben
Zweieinhalb Jahre nach der schweren Operation geht es dem Seitenstettner Pfarrer wieder gut – einzig die 20 Tabletten, die Heigl Tag für Tag einnehmen muss, erinnern ihn daran. Seine Gesundheit sieht er heute als größtes Geschenk an, auf das er achten muss. „Es ist nicht so leicht, sich abzugrenzen und nein zu sagen. Für mich ist die Achtsamkeit die beste Form der Dankbarkeit.“ Doch für den begeisterten Sportler und Bergsteiger – Heigl wuchs auf einem Bergbauernhof auf – ist es gar nicht so leicht, vom „actio in passio“ zu kommen, nicht mehr nur zu leisten, sondern sich einzugestehen, dass man manche Dinge ruhen lässt und in das neue Leben vertraut. Sein Herz sei zudem ein sehr kräftiges, ungestümes Herz – manchmal muss man es zähmen, dass der Blutdruck nicht zu hoch wird, schmunzelt der Pfarrherr. Seine tägliche Runde im Stiftsgarten hilft Berthold Heigl dabei, wieder in seine Mitte zu kommen. Dort trifft er auch immer wieder auf Menschen, die ihn ansprechen.
Just in diesem Moment kommen Besucher des historischen Gartens näher. Sie erkennen den beliebten Geistlichen und plaudern mit ihm. Dann wandern sie Richtung Ausgang und der Geistliche ruft ihnen nach: „Ich habe vor zwei Jahren ein neues Herz bekommen.“ „Na dann kann es ja nur bergauf gehen“, antworten die Menschen. Berthold Heigl lächelt und dankte in diesem Augenblick wohl dafür, dass diese Geste der Nächstenliebe – das gespendete Herz – ihm sein Leben zurückbrachte.