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Ein Leben lang verbunden

Geschwister lieben und hassen sich, sie vertrauen einander blind und sind im nächsten Moment wieder Rivalen. Was ist das Besondere an dieser Beziehung, die ein Leben lang bestehen bleibt?


Foto: istockphoto

„Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen die Friedenspfeife. Geschwister können beides.“ Dieses Zitat stammt vom Schriftsteller Kurt Tucholsky. Tatsächlich sind Geschwisterbeziehungen von einer ganz speziellen Dynamik geprägt, sie sind die längsten unseres Lebens und wirken unterschwellig immer fort. „Geschwisterbeziehungen sind durch intensive Emotionen gekennzeichnet. Geschwister lieben und hassen sich, sie vertrauen einander blind und sind im nächsten Moment wieder Rivalen. Und wenn es auch Zeiten gibt, in denen sich viele aus den Augen verlieren, kann diese Beziehung nicht einfach so beendet werden“, sagt die Familienpsychologin Mag. Maria Fallmann aus Königstetten in Bergland. Sie merkt an, dass Geschwisterbeziehungen elementarer und spontaner sind als andere Beziehungen.

Kain & Abel

Da ist zum Beispiel die Sache mit der Geschwisterrivalität, die so alt ist wie die Menschheit selbst und die wir nicht zuletzt aus der Bibelgeschichte von Kain und Abel kennen. Vom biologischen Standpunkt aus sind Geschwister sogar in erster Linie Rivalen. Das lässt sich nicht zuletzt auch im Tierreich beobachten. Doch auch bei Menschen geht es oft um Ressourcen und Macht. Denn während Eltern sich in der Regel mit ungetrübter Freude auf ein zweites Kind einstellen, sieht die Sache für Erstgeborene anders aus: Sie erfahren jetzt, was es heißt, teilen zu müssen, weniger Anerkennung und Zuneigung zu bekommen, verglichen zu werden. „Zu dem Zeitpunkt, da ein zweites Geschwisterchen kommt, wird das Erstgeborene ‚entthront‘. Emotionen wie Angst, Neid, Gekränktsein oder Eifersucht können entstehen und die Rivalität entzünden“, sagt Maria Fallmann. „Ganz zu erklären ist die Sache aber nicht. Fest steht nur, dass in kaum einer anderen Beziehung Hass und Liebe, Nähe und Rivalität so nahe beieinander liegen und so oft wechseln wie unter Geschwistern.“ Eine ganz normale Angelegenheit also, doch für Eltern ist es trotzdem nicht immer leicht zu handeln, denn sie können ihre Liebe und Aufmerksamkeit nicht endlos potenzieren. Und selbst wenn das Unmögliche möglich wäre, Kinder absolut gleich zu behandeln, wären diese dennoch immer wieder einmal davon überzeugt, dass das Geschwisterkind bevorzugt wird. „Wesentlich für Eltern ist, Fairness zu vermitteln und zu leben“, sagt die Familienpsychologin. „Das bedeutet jedoch nicht, jedes Kind gleich behandeln zu wollen, denn Kinder sind einzigartig und unterschiedlich und brauchen jeweils das für sie Passende.“

In seiner eigenen Welt

Interessant ist die Tatsache, dass Geschwister oft ganz unterschiedlich sind und sich auch ganz unterschiedlich entwickeln, obwohl sie dieselben Eltern haben, unter ähnlichen Lebensbedingungen aufwachsen und meist eine ähnliche Erziehung und Förderung erhalten. Ruhig und gelassen das eine Kind, wild und aufbrausend das andere – wie kann das sein? „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Kinder nicht ähnlich sind, ist erheblich höher als das Gegenteil. Denn wenn ein Kind gezeugt wird, besteht sein genetischer Pool zu 50 Prozent aus dem der Mutter und zu 50 Prozent aus dem des Vaters, und die Möglichkeiten, wie sich dieses Genmaterial mischt, sind nahezu unbegrenzt“, erklärt die Psychologin. Hinzu kommt, dass jedes Kind ein anderes Umfeld „erlebt“. Auch können vorgeburtliche Ereignisse und die Geburt selbst eine Rolle spielen, genauso wie die Erfahrungen, die jedes Kind in jeder Lebensphase macht, wie es damit umgeht und welche neuen Lernerfahrungen daraus resultieren. Jedes Kind lebt in seiner eigenen Welt, und so ähneln Geschwister einander nicht immer mehr als Kinder, die in verschiedenen Familien aufwachsen.

Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, als wievieltes Kind man geboren ist. Bei ihren ersten Kindern sind Eltern oft noch aufgeregt und unsicher, haben wenig Vertrauen in ihre Lösungskompetenz für die neue Aufgabe. „Sie reagieren auf bestimmte Verhaltensweisen von Erstgeborenen oft recht schnell, auch manchmal überbesorgt, und Kinder antworten darauf“, beobachtet Maria Fallmann. „Bei den nächstfolgenden Geschwistern haben die Eltern häufig bereits mehr Sicherheit, und auch diese und ähnliche Faktoren haben Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder und ihrer Verhaltens- und Erlebensprägungen.“

Jedem das Seine

Erstgeborene sind also möglicherweise schon allein aus diesem Grund anders als ihre Geschwister. Jedenfalls haben sie zunächst das Recht des Stärkeren und bekommen oft Verantwortung für ihre Mitgeschwister übertragen. Vor- und Nachteile gibt es auch für Spätergeborene: Sie müssen zwar manchmal zurückstecken, doch andererseits können sie sich von ihren größeren Geschwistern viel abschauen und ihnen nacheifern. Übrigens haben Erstgeborene oft den Ruf, ehrgeiziger zu sein, während Spätergeborene tendenziell als weniger strebsam und eher witzig, einfühlsamer und Neuem gegenüber aufgeschlossener gelten. Allgemeingültig ist das allerdings nicht, und die Tatsache, dass Geschwister oft so unterschiedlich sind, lässt sich ebenfalls nicht genau erklären. Die Geschwisterforscher zeigen, dass Kinder sich in der Familie ihre Nischen suchen und gegenläufige Wesenszüge herausbilden. Ist ein Nischenplatz besetzt, wird das Geschwisterkind andere Charaktere wählen, um sich zu unterscheiden. Was das für Eltern, die alle ihre Kinder „gut und richtig“ behandeln wollen, bedeutet, erklärt Fallmann: „Entscheidend ist, dass jedes Kind in seiner Persönlichkeit angenommen und in die Familie integriert wird. Dies schafft für Kinder gute Voraussetzungen, sich gut zu entwickeln und später ihren Platz im Leben zu finden.“

Die Sache mit dem Geschlecht

Geschwisterforscher beobachten, dass auch das Geschlecht der Kinder Auswirkungen auf deren Entwicklung und die Beziehungen zu anderen Geschwistern hat. Entscheidend scheint auch zu sein, ob eher Brüder oder Schwestern da sind. „Mädchen, die besonders Eigenschaften weiblicher Rollen zeigen, sind häufig Einzelkinder oder haben eher weibliche Geschwister. Dasselbe gilt entsprechend für Buben, und wenn der Altersabstand zwischen diesen Geschwistern gering ist, verstärkt sich das rollenkonforme Verhalten zusätzlich“, erklärt die Psychologin. „Demgegenüber entwickeln sich Mädchen, die mit Brüdern aufwachsen, weniger geschlechtsrollenkonform, genauso wie Buben, die mit Schwestern aufwachsen. Und: Kinder, die mit älteren Geschwistern des anderen Geschlechts aufwachsen, übernehmen mehr typische Interessen dieses Geschlechts – die große Schwester bzw. der große Bruder gelten oft als Vorbild.“

Die längste Beziehung des Lebens

Ob Vorbild oder Feindbild – die Beziehungen zu unseren Geschwistern sind die längsten unseres Lebens. Sie beeinflussen und prägen unsere anderen sozialen Bindungen und Partnerschaften, wirken entscheidend auf unser Selbstbild und unsere Identität. Denn Geschwister bilden die erste soziale Gruppe, in die wir uns einzubinden lernen. So können wir erfahren, wie man mit Nähe, Ablehnung, Konflikten, Zurückweisungen, Verletzungen und was das Leben sonst noch zu bieten hat, umgeht. „Der Schatz an Gefühlen, Handlungsstrategien und Denkmustern, den wir mit Geschwistern entwickeln, wird zum Grundmuster für den Umgang mit der Welt“, schreibt der Schweizer Psychologe Jürg Frick. Oft ist es auch gerade das Anderssein des Bruders oder der Schwester, das hier Möglichkeiten schafft. Man reibt sich aneinander, geht dann wieder aufeinander zu und verträgt sich wieder. „Diese wechselseitige Identifikation ist bedeutsam für die Entwicklung von Identität und Persönlichkeit“, sagt Maria Fallmann. Sie merkt an, dass Geschwister eine Ressource sein können, die nicht zu unterschätzen ist. Die starken Emotionen, die uns mit ihnen verbinden, die Nähe und die ähnliche Geschichte zwischen Geschwistern können oft auch im therapeutischen Sinn nutzbar sein. Und bei aller Unterschiedlichkeit geht es darum, Ebenbürtigkeit zu leben, denn wir alle sind gleich viel wert und können uns in unserer Einzigartigkeit ergänzen, schätzen und auch lieben.

„Als unsere jüngste Schwester zu uns kam, waren wir Älteren gerade vier, drei und eineinhalb Jahre alt. Ich bewundere unsere Eltern bis heute, wie sie uns neben Arbeit und Haus-Ausbau eine Kindheit mit so vielen schönen Erinnerungen ermöglicht haben. Inzwischen sind wir zwischen 30 und 35, haben alle selbst Kinder und treffen uns regelmäßig in unserem Elternhaus zum Plaudern, Kuchenessen und um den schönen Garten zu genießen. Besonders schön ist, dass unsere fünf (teils Einzel-) Kinder dadurch ähnliche Erlebnisse teilen können wie wir früher zu viert. Wir stehen uns immer noch sehr nahe und haben manche Lebensphasen überraschend gleichzeitig erlebt: 2008/2009 haben drei von uns ihre jetzigen Lebenspartner gefunden, 2012/13 gab es drei Hochzeiten zu feiern und 2015 drei große Übersiedlungen – nach wie vor mit viel Unterstützung unserer Eltern, die jede Phase nehmen, wie sie kommt und mit anpacken. Dafür ein vierfaches großes Danke!“ Agnes Maxl-Mitter

„Wir sind fünf Geschwister (drei Mädchen, zwei Buben). Unsere Eltern sind leider schon vor ein paar Jahren gestorben. Wir Geschwister haben mein ganzes Leben lang noch nie gestritten, und ich bin immerhin schon 63 Jahre alt. Nachdem meine Mama gestorben war, hatte mein jüngerer Bruder die beste Idee: Treffen wir uns doch zu jedem Geburtstag, wahlweise dort, wo das Geburtstagskind es wünscht. Und das machen wir jetzt schon seit fünf Jahren (auch die Schwägerinnen und Schwager, und wenn sie wollen, auch unsere Kinder und Enkelkinder). Außerdem fahren wir alle gemeinsam einmal im Jahr ein paar Tage in die Südsteiermark. Dabei haben wir irrsinnig viel Spaß! Ich bin froh, dass das meinem Bruder eingefallen ist, denn sonst hätten wir uns wahrscheinlich nur mehr selten gesehen, da wir weiter auseinander wohnen. Dass wir füreinander da sind, ist selbstverständlich. Wir verstehen uns super und jedes Familientreffen ist einfach nur schön! Unsere Eltern hätten große Freude mit uns.“ Josef L.

„Wenn mich jemand nach meinem schönsten Kindheitserlebnis fragt, antworte ich: die Geburt meiner Schwester. Da mein um drei Jahre jüngerer Bruder leider durch einen Geburtsfehler behindert ist, wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine Schwester. Mein Wunsch wurde am 10. Oktober 1982 endlich erfüllt. Noch heute im Erwachsenenalter haben wir ein tolles Verhältnis und sind trotz des Altersunterschiedes von mehr als sieben Jahren sehr gute Freundinnen, die über alles reden können. Wir sind beide in sozialen Berufen tätig: ich als Lehrerin, meine Schwester Heidi als Psychologin, was auch immer zu interessanten Gesprächen führt. Da meine Schwester noch recht jung war, als ich meinen heutigen Ehemann kennenlernte, ist er auch für sie fast wie ein Bruder. Wir haben sie zu vielen Ausflügen mitgenommen und schon einige Urlaube miteinander verbracht. Aber unsere schönsten Erlebnisse waren sicherlich unsere Hochzeiten und das Ankommen des Nachwuchses. Meine beiden Kinder (10 und 15) lieben ihre Tante genauso, und wir alle jubelten, als sie letzten Oktober ihren Sohn bekam. Auch die beiden Schwager verstehen sich ausgezeichnet. Für mich war meine Schwester zwar schon im Kindesalter wichtig, doch im Erwachsenenalter wird man sich der Zusammengehörigkeit noch mehr bewusst. Ich wünsche mir, dass unser Geschwisterverhältnis immer so herzlich bleibt.“ Edith Tippel aus Walpersbach

„Ich habe drei Geschwister, eine Schwester hätte ich noch, sie ist mit zweieinhalb Jahren verunglückt. Zu meiner Schwester Hermine habe ich ein inniges Verhältnis. Sie ist immer für mich da. Brauchte ich damals, als meine Kinder klein waren, schnell jemanden, war sie da. Als Mama zu pflegen war, machte sie mir immer wieder Mut und gab mir immer das Gefühl, alles richtig zu machen. Sie dankte mir immer, dass ich Mama pflegte und diese zu Hause sterben konnte. Wir mussten schon einige Abschiede von unseren lieben Angehörigen bewältigen, dadurch sagen wir einander jetzt auch immer, dass wir den anderen lieb haben. Wir sind oft schon das Tal der Tränen gegangen, dabei haben wir uns gegenseitig Trost und Kraft gegeben. Und was ich so schön finde, das Gefühl gespürt zu haben, wie wichtig man dem anderen ist. Das ist für mich das Schönste. Wir fahren jedes Jahr einmal nach Maria Taferl und nach Maria Zell. Zu meinen Brüdern habe ich auch guten Kontakt, sehe sie aber nicht so oft wie meine Schwester. Ich nenne sie Schwesterherz und bin so froh, dass es sie gibt!“  Veronika Zarl