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Du sollst nicht schlagen!

Seit über 25 Jahren ist Gewalt in der Erziehung in Österreich per Gesetz verboten. Viele Kinder werden dennoch körperlich gezüchtigt, meist aus Überforderung. Was hilft Eltern, die ihr Kind schlagen, obwohl sie das eigentlich nicht wollen?


Medienberichte über Misshandlungen von Kindern schockieren und machen fassungslos – wie kann man wehrlosen Kindern so etwas antun? Zwar lehnt eine große Mehrheit der Österreicher jegliche Gewalt an Kindern ab. Trotzdem ist Gewalt keineswegs gänzlich aus der Erziehung verschwunden, wie eine Studie des Bundesministeriums für Familien und Jugend zeigt: Fast jeder Dritte ist demnach der Meinung, dass eine Ohrfeige noch keinem Kind geschadet hat und unter Umständen ein angemesseneres Erziehungsmittel sein kann als viele Worte (siehe unten).

Altlasten aus der eigenen Kindheit

Die g’sunde Watsch’n findet also auch heute noch ihre Anhänger. Die Sozialpädagogin und Psychotherapeutin Barbara Keplinger vom NÖ Hilfswerk spricht hier von Altlasten aus der Zeit, in der körperliche und psychische Gewalt an Kindern ein legitimes und unhinterfragtes Erziehungsmittel war. Entscheidend sei, wie heutige Mütter und Väter mit selbst erlebter Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend umgehen würden. „Jeder ist erzogen worden und hat seine eigene Geschichte und damit eine größere oder kleinere Hemmschwelle bei Gewalt“, erklärt Keplinger. Jemand, der selbst geschlagen wurde, setze sich entweder bewusst damit auseinander und distanziere sich davon. Oder aber erziehe seine Kinder ähnlich, weil er findet, dass es ja auch ihm nicht geschadet hat. Die Situation in den österreichischen Familien sehe sehr unterschiedlich aus, weiß Keplinger aus ihrer therapeutischen Erfahrung: „Es gibt sehr reflektierte Familien, da ist Gewalt gar kein Thema. Dann gibt es solche Eltern, die zu diesen Mitteln greifen, aber gleichzeitig wissen, dass es nicht okay ist. Die gefährlichsten sind die, die meinen, sie haben das Recht, ihre Kinder zu züchtigen.“ Oft hätten diese Personen nicht die nötige Reflexionsfähigkeit, um das, was ihnen selber angetan wurde, zu bewältigen.

Professionelle Beratung kann helfen

„Gewalt ist kein Erziehungsmittel und darf nicht bagatellisiert werden“, betont Keplinger. Eltern, die meinen, sie klopfen ihrem Kind ohnehin „nur“ hin und wieder auf die Finger, müssten sich bewusst sein, dass es wahrscheinlich nicht dabei bleiben wird. „Kinder fordern uns heraus, sie loten die Grenzen aus und wollen wissen, wie weit sie noch gehen können.“ Es komme schnell zu Machtspielen und in Folge zu einem Schlagabtausch – im wahrsten Sinne des Wortes. Beim „Fingerklopfen“ bleibe es dann meist nicht. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul warnt vor sprachlichen Verharmlosungen. Ausdrücke wie „ein kleiner Klaps“ oder „ein paar hinter die Löffel geben“ seien lediglich herunterspielende Synonyme für Akte der Gewalt, die Angst, Misstrauen und Schuldgefühl auslösen und langfristig dem Selbstgefühl von Kindern Schaden können, schreibt Juul in seinem Erziehungsratgeber „Dein kompetentes Kind“. Was können Eltern tun, die ihre Kinder hin und wieder schlagen, denen – verharmlosend gesagt – „die Hand ausrutscht“, ohne dass sie es eigentlich wollen? „Ich will niemanden verurteilen, sondern sehr ermutigen, sich damit auseinanderzusetzen“, sagt Keplinger. Wichtig sei, Selbstvorwürfen nicht allzu viel Raum zu geben, das sei nämlich ein weiterer Stressfaktor. „Man sollte sich intensiv mit sich selbst beschäftigen und sich fragen, wie es denn soweit kommen konnte.“ Selbstreflexion sei für Eltern in jeder Hinsicht gewinnbringend und helfe, die eigenen Grenzen kennen zu lernen und Wege zu einem inneren Gleichgewicht zu finden. Außerdem können Beratungsangebote, wie sie beispielsweise das NÖ Hilfswerk anbietet, hilfreich sein. „Jeder Berater nimmt es nur positiv wahr, wenn jemand deswegen kommt. Man braucht also keine Hemmungen haben!“, beruhigt Keplinger.

Raus aus der Situation!

Blankliegende Nerven, sich aufschaukelnde Konflikte mit Explosionspotential und lautstarke Streitigkeiten kennen die meisten Eltern in ihrem Erziehungsalltag. „Wir sind alle Menschen und immer wieder in Grenzsituationen“, sagt Barbara Keplinger. Die Anforderungen an Eltern seien heute groß, und gerade Alleinerziehende hätten eine immens große Last zu tragen. Keplingers Ratschlag für extreme Momente, in denen Eltern das Gefühl haben, jeden Augenblick die Kontrolle zu verlieren: „Raus aus der Situation und sie so entschärfen!“ Also selbst aus dem Raum gehen oder das Kind ins eigene Zimmer schicken, um tief durchzuatmen und Energie aufzubauen. Ist ein zweiter Erwachsener dabei, kann man sich noch leichter ausklinken und erst einmal an diesen alles übergeben. Das hat häufig auch für das Kind Signalwirkung. Und:  „Man muss nicht alles sofort lösen“, findet Keplinger, „man kann dem Kind auch einfach ganz authentisch sagen, wie grantig man gerade ist.“

Die Verantwortung übernehmen

Mütter und Väter, die etwas getan haben, was sie nachher bereuen, sollen sich bei ihrem Kind entschuldigen. Eltern müssen nicht perfekt sein, sollen ihre Fehler aber eingestehen und ihr Kind um Verzeihung bitten. Gerade wenn Gewalt im Spiel war, ist es von großer Wichtigkeit, dass Eltern die Verantwortung dafür voll und ganz übernehmen, betont Jesper Juul: „Abgesehen von regelrechten Kindesmisshandlungen ist dies eine der destruktivsten Formen von Gewalt an Kindern, weil sie dem Kind die Verantwortung in die Schuhe schiebt: Es ist deine Schuld, dass ich dich schlage.“ Dem Kind werde dadurch vermittelt, dass es „verkehrt“ und wertlos ist. Egal, was das Kind getan und wie sehr es seine Mutter oder seinen Vater provoziert hat, ist es immer der Erwachsene, der die Verantwortung für die Gewalt übernehmen muss.

Folgen psychischer Gewalt

Körperliche Züchtigung ist nur eine Form von Gewalt. Demütigungen, Bloßstellen, Angstmachen oder Liebesentzug sind Formen psychischer Gewalt, die bei Kindern ebenfalls großen Schaden anrichten können. Die Studie des Familienministeriums stellt eine deutliche Gewaltverschiebung in den psychischen Bereich in den vergangenen Jahrzehnten fest. So wird von fast vierzig Prozent der Befragten als Erziehungsmittel befürwortet, längere Zeit nicht mit dem Kind zu reden. „Kinder erleben es als sehr schmerzhaft, wenn sie meinen, dass Mama oder Papa sie nicht mehr lieb haben“, sagt Keplinger. Werden sie häufig abgewertet und mit anderen verglichen, schlage sich das auf ihr Selbstwertgefühl. Ablehnung und Tadel durch die Eltern sollen also nur das betreffen, was das Kind getan hat, nicht aber das Kind selbst. „Das Kind muss immer spüren, dass es als Person geliebt wird.“

Wer provoziert, braucht Zuwendung

Das gelte auch für die Fälle, in denen die Fronten zwischen Eltern und Kind sehr verhärtet sind, sagt Keplinger. Eltern, die deswegen zu ihr in die Beratung kommen, macht sie darauf aufmerksam, dass das Kind, mit dem es am meisten Probleme gibt, auch am meisten Zuwendung braucht. Kinder, die ständig provozieren, würden zeigen, dass etwas in Schieflage geraten ist und dass es ihnen nicht gut geht. „Ich frage die Eltern dann: Was ist trotz der Schwierigkeiten liebenswert an Ihrem Kind? Wo gibt es etwas, das ich lieben kann? Man kann negatives Verhalten nicht nur mit Kritik und negativer Aufmerksamkeit bezwingen.“ Wenn Mutter und Vater dem Kind zeigen, dass sie es trotz allem lieben, entstehe eine positive Dynamik und so manche Pattstellung könne überwunden werden.

Gewalt in der Erziehung gesetzlich verboten

In Österreich ist körperliche Züchtigung in der Kindererziehung seit 1989 gesetzlich verboten. In Artikel 5 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern heißt es dazu: „Jedes Kind hat das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, die Zufügung seelischen Leides, sexueller Missbrauch und andere Misshandlungen sind verboten.“ Österreich war nach Schweden, Finnland und Norwegen das vierte Land weltweit, das das Gewaltverbot rechtlich verankert hat. Eine wesentliche Rolle auf dem Weg zu diesem Gesetz spielte der Wiener Kinderarzt Dr. Hans Czermak (1913–1989) mit seinem Credo „Die g‘sunde Watsch‘n macht krank“. Czermak verurteilte die damals weit verbreitete Gewalt an Babys, Kindern und Jugendlichen und machte sie unter anderem für viele psychische Störungen sowie Gewalt in der Gesellschaft verantwortlich.

Geschlagen wird aus Überforderung

Heute, mehr als 25 Jahre nach der gesetzlichen Verankerung von Gewaltfreiheit in der Erziehung, lehnt ein Großteil der Österreicherinnen und Österreicher körperliche Züchtigung von Kindern ab, wie eine Studie des Bundesministeriums für Familien und Jugend ergibt. Geschlagen wird heute weniger aus Überzeugung als aus Überforderung. Während 1977 für fast zwei Drittel die Ohrfeige ein probates Erziehungsmittel war, ist sie es heute für ein Drittel. Eine positive, wenn auch verbesserungswürdige Entwicklung. Über die Hälfte der Befragten findet auch heute noch einen „kleinen Klaps“ durchaus zulässig, die Tracht Prügel oder der „Pracker“, das Schlagen mit einem Gegenstand, wird von über neunzig Prozent abgelehnt. Dass Gewalt in der Erziehung in Österreich per Gesetz verboten ist, wissen 58 Prozent der Befragten. Gewalt an Kindern tritt in allen sozialen Schichten auf.

Anlaufstellen in NÖ

Fachstelle für Gewaltprävention im NÖ Jugendreferat: Landhausplatz 1, Haus 9, 3109 St. Pölten, Tel.: 02742/9005-9050, gewaltpraevention(at)noel.gv.at, www.gewaltpraevention-noe.at

Kinderschutzzentrum Amstetten: Rathausstraße 23, 3300 Amstetten, Tel.: 07472/65437, kinderschutz-am(at)kidsnest.at, www.kidsnest.at

Kinderschutzzentrum Gmünd: Schremser Straße 4, 3950 Gmünd, Tel.: 02852/20435, kinderschutz-gd(at)kidsnest.at, www.kidsnest.at

Kinderschutzzentrum Außenstelle Zwettl: Hammerweg 2, 3910 Zwettl, Tel.: 0664/8304495, kinderschutz-zt(at)kidsnest.at, www.kidsnest.at

die möwe Kinderschutzzentrum Mistelbach: Gewerbeschulgasse 2, 2130 Mistelbach, Tel.: 02572/20450, ksz-mi(at)die-moewe.at, www.die-moewe.at

die möwe Kinderschutzzentrum Mödling: Neusiedlerstraße 1, 2340 Mödling, Tel.: 02236/866100, ksz-moe(at)die-moewe.at, www.die-moewe.at

die möwe Kinderschutzzentrum Neunkirchen: Bahnstraße 12, 2620 Neunkirchen, Tel.: 02635/66664, ksz-nk(at)die-moewe.at, www.die-moewe.at

die möwe Kinderschutzzentrum St. Pölten: Bahnhofplatz 14/Top 1B, 3100 St. Pölten, Tel.: 02742/311111, ksz-stp(at)die-moewe.at, www.die-moewe.at

Gewaltschutzzentrum Amstetten: Hauptplatz 21, 3300 Amstetten, Tel.: 02742/31966, office.amstetten(at)gewaltschutzzentrum-noe.at

Gewaltschutzzentrum St. Pölten: Grenzgasse 11, 4. Stock, 3100 St. Pölten, Tel.: 02742/31966, office.st.poelten(at)gewaltschutzzentrum-noe.at

Gewaltschutzzentrum Wiener Neustadt: Bahngasse 14/2/6, 2700 Wiener Neustadt, Tel.: 02622/24300, office.wr.neustadt(at)gewaltschutzzentrum-noe.at

Gewaltschutzzentrum Zwettl: Landstraße 42/1, 3910 Zwettl, Tel.: 02822/53003, office.zwettl(at)gewaltschutzzentrum-noe.at

NÖ Kinder- und Jugendanwaltschaft: Rennbahnstraße 29, 3109 St. Pölten, Tor zum Landhaus, Tel.: 02742/90811, post.kija(at)noel.gv.at, www.kija-noe.at