Die Schule der Elternliebe
Welche Rolle spielen unser Vater und unsere Mutter bei der Entwicklung unserer Identität als Mann oder Frau? Wie beeinflussen sie unser Selbstbild, unsere Partner- und Berufswahl, und was geben sie uns für das Leben mit?
Viele Bindungen und Beziehungen in unserem Leben können wir frei wählen oder zumindest nach einer gewissen Zeit wieder abwählen; die Bindung zu unseren Eltern aber besteht ein Leben lang, sie prägt uns nachhaltig, und davon können vermutlich alle ein Lied singen.
Dass dem so ist, belegt etwa die sogenannte Bindungsforschung, ein zunehmend wichtiger Bereich der Psychologie, der auf den Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bolwby zurückgeht. „Der Begriff Bindung steht für die angeborene Neigung eines Säuglings, Nähe zu einer vertrauten Person zu suchen, denn Sicherheit, Wohlfühlen und Schutz sind die ersten zentralen Momente im Leben eines Menschen“, erklärt dazu der klinische und Gesundheitspsychologe Dr. Alexander Achatz aus Mödling. Immerhin sind wir Menschen als Neugeborene so sehr und lange auf Hilfe angewiesen wie kein anderes Säugetier. John Bolwby allerdings war der Überzeugung, dass der Hunger eines Kindes nach der Liebe seiner Mutter sogar noch größer ist als sein Hunger nach Nahrung.
Verschiedene Bindungsstile
Nun kann man sich angesichts der Individualität der Menschen und der so unterschiedlichen Situationen, in denen sich junge Väter und Mütter befinden, leicht vorstellen, dass nicht alle Eltern die gleiche Fähigkeit haben, Liebe zu schenken und sichere Bindung zu vermitteln. Tatsächlich unterscheidet die Wissenschaft unterschiedliche Bindungsstile, und sie klassifiziert Kinder grob gesprochen in sicher-gebundene, unsicher vermeidend-gebundene, unsicher ambivalent-gebundene und desorganisierte. Wobei nicht zwangsläufig die leiblichen Eltern die wichtigsten Bindungspersonen sein müssen; ist beispielsweise eine Mutter nicht in der Lage, sich gut um ihr Kind zu kümmern, kann auch die Oma oder eine andere Bezugsperson zum wichtigsten Menschen im Leben eines jungen Erdenbürgers werden. Wichtig dabei ist vor allem, dass diese
Person auf die Bedürfnisse des noch hilflosen
Kindes eingeht.
- n Für sicher-gebundene Kinder erfüllt die Bindungsperson die Rolle eines „sicheren Hafens“, der immer Schutz bieten wird, wenn das Kind dies braucht. Sie können sich in der Regel gut entwickeln.
- n Unsicher-vermeidend gebundenen Kindern hingegen fehlt die Zuversicht bezüglich der emotionalen Verfügbarkeit ihrer Bindungsperson. Sie entwickeln die Erwartungshaltung, dass ihre Wünsche nach Zuwendung grundsätzlich auf Ablehnung stoßen und dass sie keinen Anspruch auf emotionale Unterstützung haben.
- n Bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern sieht das Muster so aus, dass die Bindungsperson nicht zuverlässig, nachvollziehbar und vorhersagbar auf Bindungswünsche des Kindes reagiert, was dazu führt, dass das Kind permanent damit beschäftigt ist herauszufinden, was die Bindungsperson gerade fühlt, will und braucht, damit es sich entsprechend anpassen kann. Tendenziell sind das Kinder, die sich übermäßig an ihre Bezugspersonen klammern.
- n Was desorganisierte Kinder betrifft, so sind die Bezugspersonen aus unterschiedlichen Gründen selbst Quelle der Verängstigung, sodass die Kinder keine Bindungsstrategie finden, da sie sich einerseits den Bezugspersonen nähern wollen, sie aber gleichzeitig als Quelle der Angst „erkennen“ und vor ihnen zurückweichen. Verwahrloste und misshandelte Kinder fallen in diese Gruppe.
Von der Wiege bis zum Grabe
Haben Sie sich nun selbst oder Ihre Eltern in dem einen oder anderen Muster wiedererkannt? „Die unterschiedlichen Bindungsstrategien der Eltern haben einen direkten Einfluss auf die Bindungsmuster der Kinder, und deren Bindungsstil wird auf das Kind übertragen und beeinflusst wesentlich die Entwicklung ‚von der Wiege bis zum Grabe‘, sagt Psychologe Alexander Achatz. „Sicher gebundene Kinder werden die Herausforderungen des Lebens mit einer höheren Wahrscheinlichkeit besser meistern als unsicher oder ambivalent gebundene oder gar desorganisierte Kinder, und sie werden beispielsweise auch leichter Kontakt zu Gleichaltrigen knüpfen können.“
Und welchen Einfluss haben diese sehr frühen Wahrnehmungen und Erlebnisse – in Bezug auf unsere wichtigsten ersten Menschen in unserem Leben – auf unsere Partnerwahl? Auch hier gibt es interessante psychologische Erkenntnisse, denn tatsächlich gibt es diesen Einfluss. „Sicher-autonom gebundene Erwachsene werden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zufriedenstellende Partnerschaften erreichen als Menschen mit unsicheren Bindungserfahrungen oder solche, die unverarbeitete Traumata in Beziehungen einbringen“, weiß Alexander Achatz.
Traumata & Konsequenzen
Zum Thema unverarbeitete Traumata hat die Schweizer Psychotherapeutin Julia Onken ein für Frauen hoch interessantes Buch mit dem Titel „Vatermänner – Ein Bericht über die Vater-Tochter-Beziehung und ihren Einfluss auf die Partnerschaft“ geschrieben. Die Autorin geht davon aus, dass Mädchen den Grunddialog mit dem anderen Geschlecht durch ihren Vater erlernen, da die frühe Begegnung mit dem eigenen Vater zum ersten Mal die männliche Welt eröffnet. „Wenn sich der Vater seiner Tochter liebevoll zuwendet, sie im ganzen Wesen glaubhaft respektiert und anerkennt, wächst bei einem Mädchen Selbstsicherheit und Selbstvertrauen, die für ihr späteres Leben von großer Bedeutung sind“, schreibt die Psychotherapeutin. Wenn er sich aber etwa wegen beruflicher Belastung, langer Abwesenheit oder Desinteresse wenig um sie kümmert, dann gibt es nach Onken drei Möglichkeiten für das Mädchen, den Vater doch auf sich aufmerksam zu machen:
- „Gefalltöchter“ leben nach der Devise „Ich gefalle, also bin ich“ und versuchen die Aufmerksamkeit über optische Gefälligkeit zu erreichen und durch besonders auffälliges Verhalten die Zuneigung des Vaters zu erwerben.
- Die Maxime der „Leistungstöchter“ lautet: „Ich bin leistungsfähig und erfolgreich, also bin ich“. Ihr Interesse ist darauf gerichtet, gute Leistungen zu erbringen, und zwar sowohl in der Schule als auch in diversen anderen Bereichen, je nachdem wie die Interessen des Vaters gelagert sind.
- „Trotztöchter“ wiederum richten sich nach der Regel „Ich spüre Widerstand, also bin ich“. Sie legen sich zu allem quer und provozieren den Vater, um sich so seine Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erkämpfen.
Beziehungsmuster
Diese drei Beziehungsmuster, die zum Tragen kommen, wenn etwas in der Beziehung zum Vater nicht adäquat gelaufen ist, beeinflussen laut Julia Onken in der Folge auch die Partnerwahl und Partnerbeziehungen dieser Frauen: „Gefalltöchter“ entwickeln demnach eine große Fähigkeit, sich auf ihren Mann einzustellen und mit ihm zu schwingen. Ihre eigenen Interessen bleiben ihnen oft verborgen, und sie ordnen sich den Vorstellungen des Partners unter. „Leistungstöchter“ hingegen gestatten sich im Leben nur wenig Schwächen und Gefühle, verleugnen ihre weibliche Seite und sind häufig mit antriebslosen, schwachen Männern liiert, wobei die anfängliche Verliebtheit oft irgendwann kippt und in Entwertung des Partners umschlägt. Was die „Trotztöchter“ betrifft, so tragen sie ihr Lebensmuster auch in Beziehungen und geben erst einmal Kontra. Beziehungen werden für sie zu Kampfschauplätzen.
Eltern als Götter
Dass Kinder, Mädchen wie Buben, den Grunddialog mit dem anderen Geschlecht vom jeweiligen Elternteil lernen, bestätigt auch der Psychologe Achatz. Er weiß, dass Eltern aus Sicht der Kinder wie „Götter“ sind und präsentiert einen etwas anderen Ansatz als Julia Onken: „Es ist anzunehmen, dass die Persönlichkeit des Vaters oder der Mutter umso mehr Einfluss auf die Partnerwahl hat, je besser die Bindung zu diesem Elternteil ist und vice versa. Schlussendlich spielen aber auch viele andere Parameter eine Rolle, etwa die Verfügbarkeit potenzieller Partner.“ Der Psychologe weist auch darauf hin, dass bei misshandelten Kindern und Jugendlichen bestimmte Verhaltens-, Fühl- und Denkweisen des Täters aus Gründen, die in der traumatischen Situation überlebenswichtig waren, in die eigene Persönlichkeit übernommen werden. „Das kann ein Grund sein, warum beispielsweise ehemals misshandelte Mädchen auch als Erwachsene immer wieder misshandelnde Partner wählen.“
Geliebter & gehasster Vater
Zum Stichwort Frauen stellt sich noch die Frage, warum sie so oft dazu neigen, ihr Leben lang den Vater zu idealisieren oder zu verdammen. Achatz sagt dazu: „Sicher-autonom gebundene Erwachsene werden die Vor- und Nachteile der elterlichen Er- und Beziehung besser einschätzen können als unsicher-gebundene Menschen oder traumatisierte Personen. Sie haben einen offeneren Zugang zur Einstellung, dass etwa auch noch so feinfühlige Eltern Fehler machen können, und sind in der Lage, diesbezügliche Verbesserungen im Zuge eigener Elternschaft zu reflektieren. So könnten Idealisierung und Verdammung als Zeichen für eine unsichere Bindung oder gar von Desorganisation im Sinne der Bindungstheorie gesehen werden.“
Bindung und ihre Beschaffenheit ist also das Hauptstichwort in unserem Zusammenhang. Tatsächlich ist das Bedürfnis danach tief mit der menschlichen Entwicklungsgeschichte verbunden und verändert im Laufe der Zeiten wohl genauso wenig wie das Bedürfnis nach Nahrung. Wir sollten versuchen, unsere Kinder in diesem Sinne groß werden zu lassen.
Buchtipps
Julia Onken: Vatermänner
Ein Bericht über die Vater-Tochter-Beziehung und ihren Einfluss auf die Partnerschaft. Verpackt in ihre eigene Erfahrung, die sich als roter Faden durch dieses Buch zieht, beschreibt die psychologisch geschulte Autorin die verschiedenen Vater-Tochter-Beziehungen. Dieses Buch bringt vielen Frauen einen Aha-Effekt: Sie verstehen, welche Muster sie in ihren Partnerschaften leben und entdecken, woher diese Verhaltensweisen kommen. Onken beschreibt, wie Männer durch die Mutter mit oft grenzenlosem Selbstvertrauen ausgestattet werden und warum Frauen nicht wie selbstverständlich damit versorgt werden. Eine typische Rezension: „Ich habe das Buch interessiert gelesen. Lange hab ich gedacht: ‚Nein, auf mich trifft das alles nicht zu. Mein Vater war/ist perfekt. Er ist für mich da, hat mit mir gespielt, mir Geschenke gemacht und mich gefördert.‘ Und dann, in der Mitte des Buches, sind auch mir die Schuppen von den Augen gefallen. Die Leistungstochter fand ich eindeutig in mir. Das Erschreckende, aber auch Faszinierende an dieser Erkenntnis ist, dass ich in meiner Partnerschaft wieder in diese Rolle schlüpfe.“ Ein Buch, das vielen Töchtern gut tun wird. Und das man Vätern zur Geburt ihrer Tochter in die Hand drücken sollte.
ISBN: 978-3-406635137, 10,30 Euro
Albrecht Mahr: Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein
Mahr zeigt, wie gut es ist, dass wir erwachsen sind, weil wir uns jetzt von dem befreien können, was wir als Kinder getan haben in der Hoffnung, sicher gebunden und geliebt zu werden. Die Kindheit, von den vorgeburtlichen Erfahrungen bis zur Pubertät und darüber hinaus, ist für viele von uns alles andere als unbeschwert, sondern sehr oft mit viel Leid verbunden. Halten wir an den kindlichen, illusionären Vorstellungen im Erwachsenenleben fest, können wir daran bis ins hohe Alter leiden, weil wir als gealterte und bedrückte Kinder stehen bleiben. Doch der international tätige psychoanalytische und systemische Psychotherapeut Mahr ermutigt: Es ist nie zu spät, ein glücklicher Erwachsener zu sein, indem man sich aus dem löst, was wir als Kind als Überlebensstrategie gelernt haben. Und das mit einem breiten Bogen an Themen, wie einem guten Umgang mit Sterben, Tod und den Vorfahren, der Frage „Wer bin ich?“ und neuen Antwort-Möglichkeiten oder wie man endlich ein liebevolles Verhältnis zu Körper, Herz und Sexualität bekommen kann. Das Buch lehrt uns, das Erwachsensein als das zu schätzen, was es sein kann: ein immer weiter reifendes Bewusstsein, das das Beste in uns fördert und herausfordert, viele Vorteile hat und unser Lebensglück begründet.
ISBN: 978-3-958030480, 20,60 Euro