Der Verlust der Stille
Tinnitus: Alleine das Wort klingt schon nervenaufreibend, irgendwie schrill. Rund ein Zehntel der Österreicher kennt ihn aus eigener Erfahrung. Doch das Übel sitzt nicht im Ohr, sondern im Gehirn.
Dr. Johannes Schobel, niedergelassener HNO-Arzt in St. Pölten
Er kann ein leises Summen sein, ein lästiges Pfeifen, genauso wie ohrenbetäubendes Kreischen. Als Tinnitus werden alle Arten von Ohrgeräuschen bezeichnet, die nicht von außen kommen und doch ständig da sind, Tag und Nacht. Sie können störend sein, müssen aber nicht. Viele Menschen haben irgendwann in ihrem Leben ein Ohrgeräusch, sei es im Zuge einer Ohrenentzündung oder eines Hörsturzes, meist verschwindet es jedoch nach einiger Zeit von selbst. Und auch wenn es bleibt, muss es nicht unbedingt als störend empfunden werden. HNO-Arzt Dr. Johannes Schobel aus St. Pölten ist auf Tinnitus spezialisiert und berichtet aus langjähriger Erfahrung: „Manche Patienten sagen, ihnen ist der Tinnitus vollkommen egal, andere sagen, sie können unmöglich damit leben. Ich hatte auch schon Patienten, die deswegen versucht haben, sich umzubringen.“
Lärm ist die Regel
Um zu verstehen, warum unser Ohr Geräusche hört, die nicht da sind, müssen wir zuerst die Gegenfrage stellen: Warum hören wir eigentlich manchmal nichts? Für jeden gesunden, das heißt in diesem Fall normalhörenden Menschen ist Stille etwas ganz Selbstverständliches. Dabei ist Stille nicht etwas, das existiert, sondern etwas, das unser Gehirn uns vorgaukelt. In unserem Innenohr gibt es tausende Sinneszellen, die Schallwellen aus der Umgebung aufgreifen und in Signale an das Gehirn umwandeln. Diese Signale präsentiert uns das Gehirn schließlich als Töne oder Geräusche. Auch bei vollkommener äußerer Stille sind diese Sinneszellen aber keineswegs inaktiv, sie produzieren selbstständig Geräusche, die sogar bis nach außen dringen und gemessen werden können. Dieses Phänomen wird als otoakustische Emission bezeichnet.
Wenn es aber im Ohr so laut hergeht, wieso bekommen wir davon normalerweise nichts mit? „Weil wir nicht wahrnehmen, was ist, sondern das, was unser Gehirn aus den vom Innenohr ankommenden Informationen macht“, erklärt Schobel. „Das Gehirn interpretiert diese Grundaktivität, die im Innenohr ständig vorhanden ist, als Stille. Das muss es nach der Geburt erst lernen, denn im Mutterleib ist es niemals still.“ Absolute Stille ist also kein Normalzustand, der Mensch war ihr in seiner evolutionären Entwicklungsgeschichte niemals ausgesetzt. Jeder, der schon einmal eine Nacht im Freien verbracht hat, weiß: In der Natur ist es niemals vollkommen still.
Kopfsache
Lärm ist also immer da, es kommt nur darauf an, was das Gehirn daraus macht. Wie schon erwähnt, verschwindet ein etwaiges Ohrgeräusch meist schnell von selbst, das Gehirn gewöhnt sich daran und blendet es einfach aus. Bei manchen Menschen hingegen funktioniert dies nicht. „Beim Tinnitus verkrallt sich das Gehirn sozusagen in ein Ohrgeräusch. Hier spielt das Gefühlsleben des Patienten eine wichtige Rolle“, weiß Schobel. „Alles was wir hören, durchläuft erst einmal das Gefühlszentrum im Hirn und bekommt sozusagen ein emotionales Etikett. Denken Sie daran, wie Musik berühren kann oder wie das Schreien eines Babys einem durch Mark und Bein geht – das alles ist unserem Gefühlszentrum zu verdanken. Wenn das Gehirn nun ein Ohrgeräusch als besonders störend und negativ bewertet, kann daraus sehr leicht ein chronischer Tinnitus entstehen.“ Genau deshalb hält Schobel auch die Kognitive Verhaltenstherapie für die beste Behandlung, denn sie hilft, das Denken über den Tinnitus zu verändern. Auch Neuro- und Biofeedback sind gute Wege, zu lernen, sich zu entspannen und auf etwas anderes zu konzentrieren. „Ziel der Therapie ist trotzdem nicht die Heilung“, betont Schobel, „sondern dass der Patient sagt, er kann mit dem Geräusch in seinem Ohr leben.“
Da das Übel schließlich vom Ohr zu kommen schien, ging man in der Vergangenheit auch schon zu drastischen Maßnahmen über und versuchte, von Tinnitus gequälten Menschen durch Durchtrennung ihres Hörnervs Erleichterung zu verschaffen. Dass das Geräusch danach trotz nun völlig taubem Ohr nach wie vor da und möglicherweise sogar noch lauter war, macht noch einmal deutlich, dass der Tinnitus nicht als Problem des Ohres, sondern des Gehirns anzusehen ist.
Noch mehr Lärm
Doch wie kommt es nun dazu, dass sich das Gehirn in ein Geräusch „verkrallt“ und es partout nicht mehr loslässt? Die drei wichtigsten Ursachen für Tinnitus sind laut Schobel Ohrenerkrankungen, Stress und psychische Traumata. Den Großteil von Schobels Patienten mit chronischem Ohrgeräusch machen Menschen aus, die unter Schwerhörigkeit oder komplettem Hörverlust leiden. Das lässt sich ganz einfach durch eine Unterbeschäftigung der fürs Hören zuständigen Hirnareale erklären, die irgendwann beginnen, selbstständig Geräusche zu produzieren. Bei diesen Patienten besteht die wichtigste Maßnahme im Ausgleich der Schwerhörigkeit.
Rund ein Drittel seiner Tinnitus-Patienten ist jedoch nicht im Hören beeinträchtigt, bei diesen Menschen sind die Ohren grundsätzlich vollkommen intakt, berichtet der Experte. Bei ihnen stehen sehr häufig psychische Faktoren im Vordergrund. Seelische Kränkungen oder schwere Verluste sieht er als eindeutig nachweisbare Ursachen. Bei diesen Patienten ist Psychotherapie besonders sinnvoll.
Bei normalhörenden Patienten besteht eine weitere Behandlungsoption in der Therapie mit einem sogenannten Noiser, nach dem englischen Wort „noise“, für Lärm. Noiser, die aussehen wie kleine Hörgeräte, sind Rauschgeneratoren und produzieren alle Frequenzen des Hörbandspektrums in gleicher Lautstärke. Der produzierte Lärm ist zwar sehr laut, der Tinnitus jedoch vermischt sich mit dem Rauschen und geht darin unter. So verschafft der Noiser dem Betroffenen solange er ihn benutzt eine „Auszeit“ von seinem Ohrgeräusch. Nach einigen Monaten der Anwendung wird der Tinnitus üblicherweise leiser, auch wenn das Gerät nicht getragen wird. Das Rauschen wird, zusammen mit dem Ohrgeräusch, vom Gehirn mit der Zeit ausgeblendet. „Es geht bei dieser Therapie darum, dem Gehirn zu helfen, ein neues Nullniveau zu definieren, also Stille neu zu erlernen“, fasst Schobel den zugrunde liegenden Mechanismus zusammen.
Tabletten kann Schobel seinen Tinnitus-Patienten zur Linderung nicht anbieten: „Es gibt bis heute kein nachgewiesen wirksames Medikament.“ Akut auftretender Tinnitus bei an sich Normalhörenden wird üblicherweise mit Cortison behandelt, wobei sich das Problem in solchen Fällen nach kurzer Zeit auch ohne Behandlung meist von selbst löst.
Unklare Ursache
Ob der Tinnitus nur vorübergehend ist oder dauerhaft bleibt – bei vielen Patienten bleibt der tatsächliche Grund für das Ohrgeräusch gänzlich im Dunkeln. „In der Ohrenheilkunde haben wir das Problem, dass wir das betreffende Organ nicht direkt sehen können, wir können schließlich nicht ins Innenohr schauen“, bedauert Schobel. „Das macht es oft schwierig, die genaue Ursache herauszufinden.“ Angesichts seiner Erfahrung mit Tinnitus-Patienten ist der Experte jedoch pragmatisch. „Nach 20 Jahren Beschäftigung mit diesem Thema wundert es mich nicht mehr, dass Menschen einen Tinnitus haben“, lacht er, „sondern eher, dass es Menschen gibt, die keinen haben.“
Neueste Forschung
Eine aktuelle Studie aus Großbritannien beschäftigte sich mit der Frage, wie positives beziehungsweise negatives Denken über den eigenen Tinnitus die Prognose und den Leidensdruck der Patientinnen und Patienten beeinflussen kann.
Das Ergebnis überraschte: Eine positive Einstellung scheint wenig Einfluss auf die Krankheit zu haben, negatives Denken kann das Krankheitsgefühl und die Symptome jedoch beachtlich verschlechtern. Die Forscherinnen und Forscher halten es deshalb für besonders sinnvoll, in der psychotherapeutischen Tinnitusbehandlung am Vermeiden negativer Gefühle und einer eventuell pessimistischen Einstellung zur Krankheit zu arbeiten.